Wenn der Donner von Weitem grummelt und die schmalen Straßen des 1.000-Seelen-Orts Wustrow schlagartig in dunkles Licht getaucht sind, dann will hier eigentlich keiner mehr raus. Auch Silvia Priebe und ihre Hunde nicht. Sie wohnen in einem Haus nahe der Ostseeküste auf der Halbinsel Fischland, umgeben von Wasser. Genau in einem solchen Moment kann ein Alarm auf Silvia Priebes Handy ertönen. Dann weiß sie: jemand ist in Seenot, hat es also „nicht mehr rechtzeitig reingeschafft“ und braucht Hilfe.
Dann lässt sie alles stehen und liegen, schwingt sich auf ihr Fahrrad und tritt kräftig in die Pedale, bis sie den historischen Rettungsschuppen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) erreicht hat. Im Schuppen steht ein dunkelroter Traktor. Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen: Es ist ein umgebauter John Deere 6R 230!
Von einem Moment auf den anderen muss ich in der Lage sein, alles stehen und liegen zu lassen – sowas kannst du nicht allein machen.
Silvia Priebe, freiwillige Seenotretterin des DGzRS
„Hier gibt es flachen Sandstrand und wenige Häfen. Weil wir in einer solchen Situation aber schnell aufs Wasser müssen, schaffen wir unser Seenotrettungsboot zum Strand der Ostsee oder zum Saaler Bodden – je nachdem, wo jemand unsere Hilfe braucht“, sagt Silvia Priebe.
Bei dieser Aufgabe unterstützt der Traktor. Er zieht das 2023 gebaute Seenotrettungsboot „Knut Olaf Kolbe“ auf einem eigens konstruierten dreiachsigen Anhänger entweder zum Strand oder zum Bodden.
Es geht darum, Leben zu retten
Dort wird das Boot ins Wasser gekippt, und mit ordentlich Schwung kann die Boots-Mannschaft von drei bis vier Rettungsleuten zum Einsatzort starten. Die Gründe für einen Einsatz der Seenotretter sind ganz unterschiedlich: Mal haben Segler bei starkem Wind Mastbruch oder Wassereinbruch erlitten, mal ist jemand mit einem Angelboot rausgetrieben, ein andermal haben Fischer mit ihrem Kutter bei Nebel die Orientierung verloren. So gut wie immer geht es darum, Leben zu retten.
Die DGzRS ist in dem ehemaligen Fischer- und Seefahrerort Wustrow seit 1866 stationiert. Heute gibt es dort 18 freiwillige Seenotretter, die auf Abruf bereit sind und dann kurzfristig unter sich klären, wer am schnellsten raus kann – rund um die Uhr, bei jedem Wetter. Ihre Mobiltelefone haben die Rettungsleute deswegen immer bei sich. Meist sind sie selbst Seeleute oder kommen aus Seefahrer- oder Seenotretter-Familien, so wie Silvia Priebe. „Ich habe schon als Kind miterlebt, wenn mein Vater mit der Crew raus ist“, erinnert sie sich. „Dann hatte er die volle Unterstützung der Familie. Sowas kannst du schlecht allein machen.“ Die Menschen in Wustrow haben einen engen Bezug zum Wasser, dem Meer, den Wellen und dem Wind. Wie soll es auch anders sein?
Die Transformation von der land- zur seetauglichen Maschine
Seit Dezember 2023 verstärkt der rote John Deere 6R 230 das Team der Seenotrettungsstation auf der Halbinsel. Seine Vorteile: Er ist schnell, stark, wendig und kann ins Wasser fahren. Andreas Meier, vom John-Deere-Vertriebspartner Hans Meier oHG aus der Nähe von Wolgast, hat den Traktor, der ursprünglich grün-gelb aus dem Werk Mannheim kam, umgebaut. Sechs Wochen arbeitete Meier mit seinen Kollegen nun an diesem Projekt – einer Lösung für die Seenotretter. „Ich habe mich mit meinem Werkstatt-Team zusammengesetzt und die Ideen sprudeln lassen. Jetzt kann der Traktor ohne Probleme Salzwasser ab“, sagt Meier. Und das meint er wörtlich.
Es ging vor allem darum, die Elektrik und Elektronik aus dem unteren Bereich des Traktors nach oben zu setzen, so dass dieser bis zu einer Tiefe von gut einem Meter ins Wasser fahren kann. Die Seeleute sprechen von der „Wat-Tiefe“ – denn die muss sein, sonst kann das Rettungsboot nicht starten. Die Zentralelektronik des Traktors befindet sich jetzt im Fußraum der Kabine und die Batterie in einem abgeschlossenen Edelstahl-Behälter beim rechten Einstieg. Alle Teile, die im Salzwasser rosten könnten, hat Meier abgebaut, sandstrahlen und verzinken lassen.
Die Kabine verfügt nun über alles, was die Seenotretter brauchen: Ein Seefunkgerät, eine Windenbetätigung, zwei Blaulichter und ein Signalhorn. Eine Seilwinde zieht das Seenotrettungsboot, nachdem es mit hoher Geschwindigkeit auf den Strand zurückgekehrt ist, wieder auf den Spezialanhänger.
Ich habe mich mit meinem Werkstattmeister zusammengesetzt und die Ideen sprudeln lassen. Jetzt kann der Traktor ohne Probleme Salzwasser ab.
Andreas Meier, John-Deere-Vertriebspartner
Zum Schluss lackierte ein ortsansässiger Lackierer in Wolgast den 6R Seenotretter-rot mit schwarzen Felgen, bevor der Traktor komplett mit Korrosionsschutz eingesprüht wurde. Dieser Schutz soll ganze 10 Jahre Wind und Wetter standhalten, bevor er erneuert werden muss. Der gelb-grüne Hirsch zwischen den Scheinwerfern verrät noch immer die Herkunft: Das hier ist ein John Deere.
Wenn das Gespann für einen Einsatz mit Blaulicht und Signalhorn unterwegs ist, muss es an Ampeln oder Kreuzungen nicht warten, sondern hat freie Fahrt. Während Silvia Priebe den 6R fährt, sitzt die mindestens 3-köpfige Mannschaft in einem Toyota.
„Wenn ich ganz oben auf der Düne stehe, ist es am besten, in einem Rutsch bis zum Wasser fahren zu können. Deswegen schaut einer der Kollegen vorab immer, ob jemand einen tiefen Graben um eine Sandburg gebuddelt hat, oder ob schlecht sichtbare größere Steine im Weg liegen. Wenn bei Strandwetter jemand auf See in Not ist, müssen auch die Menschen zur Seite gehen, bevor unser Gespann über den Sand brettert.“
Andreas Meier hat die Manövrierfähigkeit im Sand vor dem Umbau mit einem Landwirt getestet und sich vergewissert: „Im weichen Sand kann man die breiten Reifen des Traktors gut gebrauchen Die oberste Schicht des Bodens ist meist trocken und der Sand fein. Der gibt nicht viel Widerstand und die Räder können durchdrehen. Aber mit dem richtigen Gewicht bringt er die Kraft auf die tiefere, etwas feuchtere Sandschicht. Hier krallen sich die Reifen fest und der Traktor kann seine Zugkraft ausnutzen.“
Gut im Video zu sehen: Die Kippfähigkeit des Anhängers ermöglicht, dass der Traktor nicht zu weit in die Ostsee fahren muss. Bis 1,20 Meter Tiefe ist das aber kein Problem.
Gute Sicht aus der Kabine
Silvia Priebe findet die Rundumsicht von der Kabine aus super. Denn die braucht sie, wenn sie den Spezialanhänger rückwärts in die Brandung hineinschiebt. Sie muss dann darauf achten, dass sie im rechten Winkel zur Welle steht, damit der Trailer unbeschadet bleibt und das Seenotrettungsboot gut starten kann. „Schalten kann ich den Traktor mit einer Hand, das geht ziemlich leicht“, sagt Priebe, die vor acht Jahren den Lkw-Führerschein gemacht hat. Einen Sportbootführerschein hat sie auch in der Tasche. Ob sie dann mit der „Knut Olaf Kolbe“ auf See hinausfährt oder beim Traktor bleibt, kommt auf die jeweilige Zusammensetzung der Crew an. Wenn Silvia Priebe lange im Traktor warten muss, ist sie besonders froh, eine Sitzheizung zu haben.
Das Rettungsboot samt Besatzung kann dann mit 33 Knoten, also etwa 61 km/h, zu den Koordinaten eilen, wo es gebraucht wird. Ein Einsatz dauert auch mal mehrere Stunden. Insbesondere, wenn Menschen über Bord gegangen sind und gesucht werden müssen: SAR, Search and Rescue, Suche und Rettung, das ist die Aufgabe der Seenotretter. An Bord des Boots erfolgt nach der Rettung die medizinische Erstversorgung der Schiffbrüchigen, bevor es zurück zum Strand geht. Die „Knut Olaf Kolbe“ fährt mit hoher Geschwindigkeit zurück an Land. Der rote Traktor bringt das Boot anschließend mit seiner Seilwinde zurück auf den Anhänger. Nach jedem Einsatz müssen der Traktor, der Spezialtrailer und das Seenotrettungsboot gründlich mit Süßwasser gereinigt werden. Das erhöht die Lebensdauer.
Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger
Die DGzRS rettet als gemeinnützige Gesellschaft (gegründet 1865) auf Nord- und Ostsee Menschen aus Seenot und Gefahren. Die Seenotretter sind rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr und bei jedem Wetter im Einsatz. Sie finanzieren sich ausschließlich durch Spenden und freiwillige Beiträge – ohne jegliche staatlich-öffentliche Mittel zu beanspruchen. Die DGzRS koordiniert sämtliche Such- und Rettungsmaßnahmen auf Nord- und Ostsee, stellt die medizinische Erstversorgung sicher und arbeitet eng mit anderen maritimen Organisationen zusammen. Ihre Besatzungen sind hochqualifiziert und überwiegend ganz ehrenamtlich tätig.
Fast jedes Wochenende fährt der Traktor in Wustrow aus dem Schuppen und übt mit der Mannschaft den Einsatz. Im vergangenen Jahr gab es etwa 20 ersthafte Situationen, in denen die Seenotretter der Station Wustrow geholfen haben – und weitere rund 2.000 Einsätze der DGzRS insgesamt.
Landmaschinen Hans Meier ohG
Andreas Meier (1. von links) und seine Monteure sind mittlerweile schon Profis im Umbau von John Deere Traktoren für die DGzRS. 2010 machte ein John Deere 7730 den Anfang, den die Seenotretter in Zinnowitz auf Usedom ähnlich wie die Seenotretter in Wustrow einsetzen. Gerade arbeitet sein Team an einem weiteren Umbau eines 6R 230 mit Sonderausstattung für die DGzRS-Station Zingst.