Es handelt sich um einen verbreiteten Mechanismus in der Natur: Wenn lebende Organismen mit einem Virus konfrontiert werden, erkennen viele dessen RNA – das genetische Material, welches die Produktion viraler Proteine ermöglicht – und blockieren deren Wirkung in der Wirtszelle. Diese Reaktion (RNA-Interferenz, kurz RNAi) wurde erstmals 1998 im Labor eingesetzt. Forschende schalteten gezielt Gene in Nematoden aus, indem sie synthetisch hergestellte doppelsträngige RNA verwendeten, die aus dem eigenen genetischen Material der Würmer stammte. Für dieses Verfahren erhielten die Wissenschaftler den Nobelpreis für Medizin.
Erste Feldversuche in Europa
Angesichts schwindender chemischer Optionen rückt RNAi zunehmend in den Fokus des Pflanzenschutzes. „Nach dem Verbot der Neonicotinoide gibt es keine Alternative mehr zur Bekämpfung von Blattläusen, die für die Übertragung von Vergilungsviren verantwortlich sind“, sagt Professor Andreas Vilcinskas, Insektenforscher am Fraunhofer-Institut für Bioressourcen in Gießen.
In den letzten Jahren mehren sich in Deutschland Notfallzulassungen solcher Neonicotinoide. Um die künftige Abhängigkeit von Notfalleinsätzen in Zukunft zu verringern, wurde am Fraunhofer-Institut das Projekt ViveBeet gestartet. Ziel ist die Entwicklung eines RNAi-Sprays gegen Blattläuse für Zuckerrüben. „Wir bringen unser Fachwissen zur Insektengenetik ein“, erklärt Vilcinskas. „Eine Formulierung wurde bereits entwickelt und ein Patent angemeldet.“ An ViveBeet sind auch das Julius Kühn-Institut und das Institut für Zuckerrübenforschung beteiligt. Erste Feldversuche der Institute im Jahr 2024 lieferten ermutigende Ergebnisse.
Wie funktionieren RNAi-Insektizide?
Die DNA, der genetische Bauplan eines Organismus, wird in den Zellen als Boten-RNA kopiert. Diese mRNA ist normalerweise einsträngig und wird von den Ribosomen gelesen, um lebenswichtige Proteine herzustellen. Wenn die Zelle jedoch eine doppelsträngige RNA antrifft, die typisch für Viren ist, erkennt sie eine Anomalie. Spezialisierte Enzyme zerschneiden die RNA in kleine Fragmente, die sich an die entsprechende, sequenzidentische mRNA binden und deren Übersetzung blockieren. Genau diesen Mechanismus nutzen Forschende, um die Gene des Zielinsekts gezielt auszuschalten.
Weniger als 10 g pro Hektar
Blattläuse, Zikaden, Käfer – an Zielorganismen mangelt es nicht. Der erste Schritt besteht darin, mithilfe bioinformatischer Methoden Gene zu identifizieren, deren Stilllegung zum Tod oder zur Sterilisation des Insekts führt. Anschließend werden die Auswirkungen unterschiedlicher Dosen doppelsträngiger RNA per Mikroinjektion oder Nahrungsaufnahme getestet.
In der Vergangenheit hat die Arbeit am Fraunhofer-Institut zur Entwicklung des ersten RNAi-Sprays zur Bekämpfung des Kartoffelkäfers beigetragen, welches 2023 in den USA zugelassen wurde. Der Hersteller Greenlight Bioscience gibt an, dass es bei einer Ausbringungsmenge von nur 9,9 g/ha eine vergleichbare Wirkung wie herkömmliche Insektizide erzielt. Angewendet wird es wie ein herkömmliches Spritzmittel, und laut Unternehmen lag der Blattverlust in Feldversuchen im Jahr 2020 unter 10 %.

Eine Barriere gegen Resistenzen
Zu den Stärken der RNAi-Technologie zählt, dass Resistenzen gegenüber der Wirkung von dsRNA weitgehend vermieden werden können. „Der entscheidende Vorteil gegenüber normalen chemischen Pestiziden ist die Möglichkeit, diesen Wirkstoff zu kombinieren“, erläutert Professor Karl-Heinz Kogel vom Institut für Phytopathologie der JLU Gießen, einer der Pioniere der Nutzung der RNAi im Pflanzenschutz. „In der Regel visieren wir nicht nur ein einzelnes Gen, sondern fünf bis zehn an. Natürlich kann man in einem biologischen System nie völlig ausschließen, dass sich ein Anpassungsmechanismus entwickelt – doch die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Mutationen gleichzeitig in einem Individuum auftreten, ist extrem gering.“
Hohe Selektivität
Ein weiteres Versprechen dieser Stoffe liegt in ihrer hohen Spezifität. Wie Karl-Heinz Kogel betont, sind die Moleküle theoretisch für Nichtzielorganismen ungefährlich – vorausgesetzt, das Erbgut potenzieller Nützlinge wurde sorgfältig abgeglichen und dieses Screening zusätzlich durch Mortalitätstests ergänzt. Gleichwohl stößt die Methode bei Umweltschützern auf Bedenken, zumal sie in der öffentlichen Wahrnehmung oft mit Gentechnik verbunden wird. „Dabei handelt es sich nicht um GVO, da beim Zielorganismus kein Erbgut verändert wird“, betont Andreas Vilcinskas.
Es handelt sich nicht um GVO, da im Zielorganismus kein Erbgut verändert wird.
Prof. Andreas Vilcinskas

Noch fehlen umfassende Studien zur ökologischen Unbedenklichkeit. Erste Untersuchungen – etwa an Bestäubern oder an nahe verwandten Insektenarten – zeigen jedoch keine negativen Effekte. Zwar lässt sich die gesamte Vielfalt eines Feldökosystems nicht auf genetische Ähnlichkeiten prüfen, dennoch eröffnen diese selektiven Moleküle neue Wege für eine gezieltere Schädlingsbekämpfung, welche die Biodiversität potenziell schont.
Darüber hinaus könnten sie selbst zur Waffe gegen den Hauptfeind der Bienen werden – die Varroamilbe. „RNA-Interferenz ist eine innovative Strategie, um bestimmte Arthropoden zu bekämpfen und gleichzeitig Bienen und Umwelt zu schonen“, schätzt Dr. Delphine Goven von der Universität Angers in Frankreich die neue Methode ein. Im Rahmen des Projekts ParaGluRSite arbeitet die Forscherin an der Identifizierung von Proteinen, um doppelsträngige RNA-Moleküle zu entwickeln, die auf lebenswichtige Gene des Varroa, aber auch anderer Arthropoden wie Zecken oder Blattläuse abzielen.
Herstellungskosten senken
Auch beim Risiko für die menschliche Gesundheit gilt: „Grundsätzlich belasten doppelsträngige RNAs die Umwelt nicht, da RNA-Moleküle sehr instabil und biologisch rasch abbaubar sind“, so Karl-Heinz Kogel. Das Landwirtschaftsministerium von Minnesota ermittelte für ein in den USA vermarktetes Molekül eine Halbwertszeit im Wasser von ein bis zwei Tagen – fast hundertmal kürzer als bei vielen chemischen Wirkstoffen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Mutationen gleichzeitig in einem Individuum auftreten, ist extrem gering.
Prof. Karl-Heinz Kogel
Genau diese Instabilität stellt jedoch eine Herausforderung bei der Feldapplikation dar. Damit RNA für die erforderliche Zeit wirksam bleibt, muss sie geschützt werden – etwa vor UV-Strahlung, Feuchtigkeit oder den Verdauungsenzymen der Insekten. Dies erfordert in der Regel eine Verkapselung in Nanopartikeln oder die Einbettung in Polymerkomplexe. Der hohe technische Aufwand, kombiniert mit regulatorischen Unsicherheiten und Fragen der Umweltwirkung dieser RNA-Komplexe, bremst derzeit Investitionen in Europa.
Und doch: Das Beispiel des Kartoffelkäfer-Sprays (Handelsname: Calantha) zeigt, dass der Ansatz tragfähig sein kann – bei einem Preis von rund einem Dollar pro Gramm. Zum Vergleich: Noch vor 15 Jahren lag der Preis für RNAi im Laborbereich bei über 12.000 Dollar pro Gramm. „Die RNA-Forschung in Europa ist im Aufwind, mit zahlreichen Projekten und Zulassungsanträgen“, sagt Vilcinskas. Viel werde vom politischen Willen abhängen – doch der Bedarf sei unbestreitbar: „Die Landwirte, mit denen ich spreche, fühlen sich entwaffnet, da ihnen immer weniger Pflanzenschutzmittel zur Verfügung stehen.“
Mehr als nur Insektizide?
Prinzipiell wirkt die RNAi-Technik im Labor gegen fast alle Arten von Krankheitserregern oder Schädlingen. „Die Frage ist: Wie bringt man die Substanz an den Ort, an dem sie wirken soll?“, erläutert Karl-Heinz Kogel. „Doppelsträngige RNA könnte auch ein hervorragendes Herbizid darstellen – vorausgesetzt, wir finden eine Technologie, um sie zuverlässig in die Pflanze einzuschleusen.“

An der Justus-Liebig-Universität Gießen testen Forschende beispielsweise Hochdrucksprühgeräte, die mikroskopisch kleine Verletzungen an der Blattoberfläche erzeugen und den RNA-Molekülen so den Eintritt ermöglichen. Ein vergleichbares Verfahren wäre auch für die Virusbekämpfung interessant – ein Bereich, in dem RNA-Interferenz besonders vielversprechend ist, da sie genau diese natürliche Immunreaktion imitiert.
„Bei Bakterien kennen wir den Mechanismus der Gen-Stilllegung noch nicht ausreichend“, so Kogel. „Das Potenzial bei Pilzen ist deutlich größer – hier haben wir im Labor bereits gute Erfolge.“ Bei Insekten bleibt die Technik jedoch am wirkungsvollsten, da zumindest einige Insektengruppen RNA über die Nahrung aufnehmen und spezielle Proteine zur Aufnahme von doppelsträngiger RNA im Darm besitzen.