Wie befürchtet fiel der „Evil rain“ vor Sonnenaufgang. „Wir mussten bis tief in die Nacht hinein die Haufen frisch geernteter Saatkartoffeln abdecken, denn die dürfen keinen Kontakt mit einem Tropfen Regen haben“, erklärt Jang Bahadur Singh Sangha im gepflegten großen Garten vor seinem Wohnhaus. Das befindet sich in Quadian Wali südlich der Millionenstadt Jalandhar mitten im Punjab – was so viel heißt wie „Land der fünf Flüsse“. Es ist eine Region, die durch ihre besonderen klimatischen Bedingungen, ihrem Wasserreichtum und ihren nährstoffreichen Böden seit jeher in Indien und darüber hinaus den Ruf eines landwirtschaftlichen Eldorados genießt.
Tatsächlich gilt der Punjab als die „Kornkammer“ Indiens; er bietet den Landwirten seit vielen Jahren die Option, innerhalb eines Jahres sowohl Reis als auch Weizen zu ernten. Das wird nun schon seit einigen Jahrzehnten praktiziert. So steht der Weizen, trotz der zu Beginn des Jahres noch empfindlichen, manchmal nachts unter Null Grad Celsius liegenden Temperaturen, saftig grün und monoton dominant auf den weiten, flachen und fruchtbaren Ebenen des Punjabs. Aber es gibt bei Weitem nicht nur Weizen und Reis, ebenso werden Zuckerrohr, Blumenkohl, Senf, Kartoffeln und andere Kulturen angebaut.
„Wir haben alles rechtzeitig geschafft, daher haben wir keinen Schaden zu beklagen,“ fügt Jang Bahadur Singh Sangha sichtlich erleichtert hinzu. So bescheiden der Mann mit dem kopfbedeckenden Turban, den (fast) jeder Mann der Religionsgemeinschaft der Sikhs trägt, auch ist, so berühmt ist er in der Welt der Kartoffelvermehrung im Punjab, in Indien und in der ganzen Welt.
Denn mit rund 2.000 ha Saatkartoffeln gehört sein Unternehmen Sangha Group zu den Großen im globalen Kartoffel-Kosmos. Sein Team ist entsprechend groß: Rund 3.000 Saisonarbeiter sind auf den Feldern im Umkreis von 100 Kilometern während der Ernte im Einsatz: Darüber hinaus stehen 250 feste Mitarbeiter auf der Gehaltsliste des Betriebes, den sein Vater Hardev Singh Sangha 1962 gründete und mit legendärer Passion aufbaute.
Mit Wissen erntet der Chef viel Respekt
Er gehörte zu jenen Machern, die nach der indischen Unabhängigkeit im Jahre 1947 große Fußstapfen hinterließen, die sein Sohn, der sein Agrarstudium an der Cornell University in den USA abschloss, gut auszufüllen weiß. Nicht nur durch seine kluge Bescheidenheit, sondern darüber hinaus hat er sich durch sein profundes Wissen sowohl im Kartoffel-Business als auch unter seinen Mitarbeitern Respekt erarbeitet.
Das zeigt sich nirgendwo mehr als auf einem der zahlreichen Felder zur Erntezeit. Mehr als 200 John Deere Traktoren sind dann im Einsatz. Sie ziehen unter anderem Roder namens Shaktiman vom deutschen Hersteller Grimme, die die Saatkartoffeln aus der sandig-tonigen Erde herausholen. Viele Hände helfen unter bedecktem Himmel, um die sensible Knolle nach Größe zu sortieren und dann in Jutesäcke zu füllen. Viele Erntearbeiter kommen aus meist ärmeren Regionen Indiens, die hier im Nordwesten Jobs finden.
Dieser Umstand hat sicherlich auch damit zu tun, dass viele Punjabi ins Ausland migrieren und dort ihr Glück versuchen. Offenbar scheint gerade Kanada aktuell eine hohe Anziehungskraft zu haben, überall sind Werbefläche von Auswanderungsagenturen zu sehen: „You want to go to Canada? We assist you!“
Sangha geht direkt auf seine Mitarbeiter zu, greift zu den Erdäpfeln, begutachtet sie mit Argusaugen, ob ihre Haut unverletzt geblieben ist. Er fragt, wie der Beginn der Ernte, die bis Anfang April andauert, angelaufen sei. Die Antworten auf Augenhöhe kommen prompt; Schwierigkeiten werden erörtert, die kurzweiligen Gespräche zielgerichtet. Nach einer halben Stunde hat sich der Chef einen Überblick über den Erntefortschritt an diesem Ort machen können, dann sitzt er schon wieder in seinem schwarzen Jeep.
In diesem Jahr werde ich zum ersten Mal Bakterien einsetzen und damit versuchen, Nährstoffe im Boden besser freizusetzen.
Jang Bahadur Singh Sangha
Er fährt zum neuen, großen Kühllager, wo die Saatkartoffeln mit einem Durchmesser von rund vier Zentimeter bei zwei Grad Celsius plus und optimaler Feuchtigkeit gelagert werden. Selbstverständlich, dass der Strom für die Kühlung zum großen Teil vom Strom einer Photovoltaik-Anlage kommt, die auf dem Dach mit einer Leistung von 300 kW erzeugt wird. Rund 60.000 Tonnen Saatkartoffeln lagert die Sangha Group in insgesamt elf Lagerhäusern, auf deren Dächern aufaddiert eine Leistung von 1,5 Megawatt installiert ist.
Ganz klar: Sangha ist auf der Höhe der Zeit, kennt die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel in- und auswendig. Ohne mikrobiologisches Know-how, ohne Klon-Techniken, wäre sein Unternehmen aber nicht das geworden, was es heute ist. Und begünstigt durch die naturräumlich-klimatische Besonderheit Punjabs, dass im Dezember die Temperatur im Durchschnitt um zwei Grad niedriger liegen als in anderen Regionen Nordindiens. Ideal für die Saatkartoffel.
Sorgen bereiten dem 54-jährigen Vorstandsmitglied des World Potato Congress allerdings der dramatisch fallende Grundwasserspiegel im Punjab – in den letzten drei Jahren rund drei Meter! Auch ist er mit den fallenden Humusgehalten nicht zufrieden, die müssten wieder ansteigen. Viel hält er dagegen von Mykorrhiza-Bakterien, die die Freisetzung der Nährstoffe wie Phosphor, Zink und Kalium fördern helfen; ein Thema, das er mit dem früheren Redakteur der Flur und Furche, Rainer Mache, einst intensiv erörterte, als er vor Jahren mit ihm für ein paar Tage durch Kartoffel-Deutschland reiste.
Dass Sangha innovative Wege geht, manifestiert sich auch an der Entwicklung eines neuartigen Kartoffelsiebes für eine Sortiermaschinen, das die hexagonalen Strukturen von Bienenwaben aufgreift.
Sangha ist einer von rund 13.000 Kunden, die John Deere im Bundesstaat Punjab betreut. Mehrere Händler wie beispielsweise die Singh Agro Company in Kapurthala versorgen die Landwirte mit Technik. Es sind in der Hauptsache Getreidebauern, die im April Weizen dreschen, der Mitte November gesät wird. Anfang Juni, vor dem Monsun, wird dann der Reis gesetzt, der im Oktober geerntet wird.
Niedrige Löhne, mangelnde Perspektiven und Bauernproteste
Für Harpreet Singh, Landwirt und Lohnunternehmer in Jodhan, ist dann arbeitswirtschaftlich wie fast überall im Punjab richtig Druck auf dem Kessel. Der Reis muss gedroschen und das Silikat haltige Stroh in Ballen gepresst werden; anschließend ist das Saatbeet für den nachfolgende Weizen vorzubereiten. Diejenigen Landwirte, die das Reisstroh nicht abfahren lassen, verbrennen es auf dem Feld. So steht das Punjab im späten Herbst oft tagelang unter dicken Rauchwolken, was nicht nur energetisch, sondern auch aus gesundheitlichen Gründen alles andere als nachhaltig ist.
Jedoch gibt es neu Ansätze, bei dem das Reisstroh in Zukunft im großen Stil zu Biogas vergoren werden soll. So hat in Lehragaga die erste Strohvergärungsanlage, betrieben von Verbio India, im letzten Jahr ihren Betrieb aufgenommen und erzeugt seitdem Biokraftstoff (CNG).
„In der Erntespitze arbeiten wir mit unseren Ballenpressen regelmäßig in die Nacht hinein“, erklärt der 45-jährige Harpreet auf seinem Hof, auf dem zu Zeiten seines Vaters, der inzwischen nach Nordamerika ausgewandert ist und dort seinen Lebensabend verbringt, noch 50 Kühe gemolken wurden. Das ist jedoch vorbei. Denn auch in Punjab ist der „Strukturwandel“ überall zu erkennen.
Und dies trotz des weiter zumindest auf dem Papier stehenden Land-Seal-Act aus der Zeit von Indira Gandhi, welches die Eigentumsfläche limitiert. Unabhängig davon gibt es eine Spezialisierung auf zumeist einen Betriebszweig – parallel dazu steigen Land- und Pachtpreise unaufhörlich, während die Löhne auf sehr niedrigem Niveau dümpeln.
Für viele junge Sikhs sei dies ein Grund ins Ausland zu emigrieren, beobachtet Landwirt Harpreet die Entwicklung kritisch. Auch die Erzeugerpreise seien durchaus bescheiden, weshalb er sich auch bei Protesten unter dem Slogan „No Farmer, No Food“ beteiligt, erzählt er vor seinem Maschinenschuppen, direkt neben einem Wasserbassin sitzend. Es plätschert. Dauerhaft schießt aus einem Rohr frisches Wasser aus einem Brunnen, der 80 Meter tief in die Erde hineingetrieben worden ist, um das Grundwasser anzuzapfen.
Über ein verzweigtes Kanalsystem, wie es überall im Punjab zu sehen ist, versorgt es die umliegenden Weizenfelder. Dabei werden die Kanäle entweder von Flusswasser, vorausgesetzt es gibt ausreichend davon, oder eben Grundwasser gespeist. Das Brunnenwasser ist fast 20 Grad Celsius warm. Es schmeckt weich und wunderbar. Dennoch: Der überall stattfindende Brunnenbau hat negative Folgen. Extrem negativ. Während fallende Grundwasserpegel für viele Landwirte erst einmal bedeutet, dass sie noch tiefer und damit noch aufwändiger bohren müssen, warnen mittlerweile viele Geologen und Agrarexperten diese Negativspirale – sogar die Wissenschaftler der berühmten Landwirtschaftlichen Universität in Ludhiana.
Dort entstand nach der indischen Staatsgründung eine ambitionierte Bildungsstätte für alle Bereiche der Landwirtschaft, die weit über die Grenzen des nordindischen Bundesstaates ausstrahlte und immer große Unterstützung in der gesamtindischen Politik erfuhr. Einfach auch deshalb, weil allen klar war, dass eine leistungsstarke Landwirtschaft das unverzichtbare Rückgrat einer stabilen indischen Gesellschaft ist.
Viele Hoffnungen wurden einst in die sogenannte „Grüne Revolution“ gesetzt, tatsächlich veränderten sich Anbaumethoden und Techniken fundamental, ebenso stiegen die Erträge. Doch heute wissen alle, dass die alleinige Fokussierung auf hohe Erträge ein Konzept von gestern ist.
Neue Impulse aus der Wissenschaft
Es gelte umzudenken, äußert sich Direktor der Punjab Agricultural University, Dr. Satbir Singh Gosal, erstaunlich deutlich. „Der Humusgehalt hat in den letzten Jahren abgenommen und die dramatisch fallenden Grundwasserstände, verursacht eben durch den intensiven Getreideanbau, zwingen uns dazu“, so Gosal in seinem Büro auf dem riesigen Campus, der früher noch am Rand der Stadt lag und heute mitten in der auf zwei Millionen angewachsenen Stadt liegt. „Wir haben in der Vergangenheit den Fokus immer auf die Pflanze gehabt, jetzt konzentrieren wir uns mehr und mehr auf den Boden und die Interaktionen im Agrarsystem generell.“
Die Probleme sind nicht klein. Gerade auch weil die Bevölkerung weiter enorm wächst. Die Städte wuchern weiter, Straßen und Gebäude jeder Art verschlingen unaufhaltsam gutes Land. Urbane Strukturen nähern sich auch den Feldern von Armarjit Singh Laddi im Dorf Rangian westlich der Bundeshauptstadt Chandigarh, die einst nach der Teilung des indischen Subkontinents in Indien und Pakistan – bei dem auch das Punjab geteilt wurde – nach den Plänen vom französischen Architekten Le Corbusier entstand. Vogelgezwitscher.
Jetzt konzentrieren wir uns mehr und mehr auf den Boden und die Interaktionen im Agrarsystem generell.
Dr. Satbir Singh Gosal
Während 15 von ihm angeheuerte Saisonarbeiter aus dem Bundesstaat Bihar bei malerischem Spätnachmittagslicht hochgewachsenes Zuckerrohr schneiden und auf Hängern verladen, sind von Weitem drehende Kräne zu beobachten, die zum Bau neuer Hochhäuser eingesetzt werden. Ein Sinnbild.
Auf bereits abgeernteten Feldstücken wird das grobe Zuckerrohrstroh in Kleinballen verpresst. Laddi baut neben seiner Hauptfrucht Zuckerrohr auch Weizen und Reis an; zudem kultiviert er Kartoffeln und Eukalyptus auf kleinen Flächen, darüber hinaus hält er noch zehn Kühe. Offen erzählt Laddi über betriebliche Abläufe. Dabei verkörpert der drahtige Mann mit seiner zugewandten Art stellvertretend die landwirtschaftliche Power im Punjab: Es sind selbstbewusste und stolze Landwirte, die genau wissen, was ihnen der begünstigte Naturraum bietet. Und sie vermitteln entschlossen die Bereitschaft, sich den (agraren) Herausforderungen der Zukunft zu stellen.