Juan Martín erzählt, dass das indigene Volk der Seris bzw. Comcaac den April „Mond, in dem die Saat des Meeresweizens reift“ nannten. Zu dieser Zeit werde das vom Meeresgrund gelöste Seegras von der Brandung an die Küste der Meerenge Infiernillo zwischen dem Golf von Kalifornien und der Insel Tiburón angespült, erläutert der Biologe. Die Sandmenschen, die hier ‒ zwischen der Golfküste und den östlichen Ausläufern der Sonora-Wüste ‒ leben, trocknen das Seegras und schütteln das Korn heraus.
Schon im 16. Jahrhundert betonte der Entdecker Álvar Núñez Cabeza de Vaca in seinen Aufzeichnungen, welch große Bedeutung das Mehl aus den Samen dieser Wasserpflanze für die Ernährung der Ureinwohner hatte, die daraus Kuchen und Heißgetränke (sog. Atoles) herstellten. Ein modernerer Beleg für den Nutzen von Zostera marina für den indigenen Stamm der Seris findet sich in einer Ausgabe der Zeitschrift Science (vom 27. Juli 1973). Ein Exemplar davon sollte viele Jahre später Ángel León in die Hände fallen ‒ und so entstand seine Idee, Seegras als gesundes Lebensmittel zu nutzen.
Das Getreide unter Wasser
Als Biologe kam Juan Martín durch seine Arbeit and er Wiederherstellung von Feuchtgebieten vor vier Jahren mit Seegras in Kontakt. „Seegras wächst an den meisten Küsten der Nordhalbkugel, außer in Polarnähe“, weiß auch Ángel León, in dessen mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnetem Restaurant Aponiente der auch unter dem Beinamen „Chef del Mar“ bekannte Koch seinen Gästen insbesondere Spezialitäten und Meeresfrüchte kredenzt.

„Chef del Mar“ (links) und Félix García, CEO von Kimitec (rechts).
Seegras ist keine Alge, sondern einer der weltweit 67 Typen von Blütenpflanzen. Während sich andere Pflanzen aus dem Meer heraus das Festland erschlossen haben, hat sich diese Graspflanze an ein Leben unter Wasser angepasst und ernährt sich von den im Salzwasser schwebenden Nährstoffen. Sie bildet Samen aus, und genau diese haben León und sein Team auf ihre Eignung als Nahrungsmittel für Menschen hin untersucht.
„Tatsächlich hat Zostera marina sogar einen höheren Nährwert als Reis oder Weizen“, betont León. Zu diesem Ergebnis gelangte er in den letzten Jahren durch den versuchsweisen Anbau von Seegras in einer Lagune der Bucht von Cádiz, bei Puerto Real. Dort ist es ihm gemeinsam mit seinem Team, zu dem auch Juan Martín zählt, gelunden, höhere Pflanzen in Salzwasser anzubauen. „Man muss bedenken: Nur 2,5 % des Wassers auf diesem irreführend ‚Erde‘ genannten Planeten ist Süßwasser“, verdeutlicht der Koch.
Weltweit erstmaliger Anbau
„Wir haben die physischen und chemischen Bedingungen untersucht, unter denen die Pflanze in Flussmündungen, Meeren und Ozeanen wächst. So konnten wir die Pflanze zum ersten Mal in der Welt an der Küste gezielt anbauen“, erzählt Juan Martín. „Uns gelang es, den gesamten Lebenszyklus dieser Pflanze unter kontrollierten Bedingungen nachbilden.“ Das Seegras wächst hier bedeckt vom Wasser der Lagune, die den Menschen an der Küste von Cádiz zuvor bereits zur Salzgewinnung und für die Fischzucht gedient hat.
„Der Anbau umfasst drei Versuchspflanzungen hier in der Provinz Cádiz, die sich in Wassertiefe, Strömungsverhältnissen und Untergrund voneinander unterscheiden. Wir nutzen dafür brachliegende Wirtschaftsflächen, die wir über ein Schleusensystem mithilfe der Gezeiten fluten und entwässern können“, erläutert León in seiner neuen Rolle als Anbauer von Meerespflanzen.
Grundlage ganzer Ökosysteme
Seegras ist ganzjährig, speichert Kohlenstoffe und gibt dafür Sauerstoff ins Wasser ab. Zudem hält es den Meeresgrund fest und bindet Sedimente und Schwebstoffe, sodass das Wasser klarer wird. Allein die Anwesenheit des unter ständigem Wasseraustausch im Wechsel der Gezeiten angebauten Seegrases nutzt der Fauna bereits: zum einen finden Tiere hier Unterschlupf, zum anderen verbessern sich die Umweltbedingungen unter Wasser. In seinem dichten Wurzelgeflecht entwickeln sich Mikroorganismen, die den Schlamm durch ihren Stoffwechsel anreichern. Der oberhalb des Meeresgrundes im Wasser treibende Teil beherbergt ökologisch wertvolle Tierarten wie Seenadeln und Seepferdchen sowie zahllose weitere Fische, Krustentiere und andere Wasserlebewesen. Daher kann auf den Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln sowie zusätzliche Nährstoffe verzichtet werden.
Doch wie jede große Ansammlung von Pflanzen zieht auch Seegras Tiere an, die die Samen fressen, bevor sie reif sind. Dagegen bilden Raubfische einen wirkungsvollen biologischen Schutz. Durch plötzliche Temperaturanstiege oder zu starke Sonneneinstrahlung im Sommer kann die Pflanzung jedoch mit Epiphyten oder Makroalgen überdeckt werden. Um dies zu vermeiden wird daher täglich „gekämmt“.
Priorität: das genetische Material

Salz und Fisch waren die Früchte der „Esteros“ in Cádiz. Einige wurden für die Kultivierung von Zostera marina wiederhergestellt.
Das Saatgut erntet der Anbauer von Zostera marina selbst, und zwar von Hand. Die Seegrasbestände sind bedroht und soll durch den Versuchsanbau die Pflanze unterstützt werden. „Es gibt nicht ausreichend Saatgut, sodass wir von unserer Eigenproduktion abhängig sind. Wir konzentrieren uns auf die Vermehrung des Pflanzenmaterials und wählen dabei bestimmte, im Hinblick auf Größe, Keimzeitraum oder Nährwert interessante Genotypen aus“, erläutert Biologe Martín.
Ángel León skizziert die zukünftigen Herausforderungen: Die Pflanze soll sich auf natürlichem Wege verbreiten, ihr Anbau soll jedem Inhaber einer Aquakultur oder Saline, jedem Meeresbauer oder Fischer offen stehen, und die Produktion soll im Hinblick auf Dichte und Anbaufläche gesteigert werden. „Genau daran arbeiten wir mit dem Restaurant Aponiente: den Anbau von Seegras von der Idee zur industriellen Reife zu bringen. Dies ist eines der Projekte, die wir zurzeit gemeinsam mit Ángel León verfolgen“, erzählt Félix García, CEO von Kimitec und Vorsitzender am MAAVi Innovation Center, dem europaweit größten biotechnischen Forschungsinstitut für natürliche Lösungen. Die gemeinsame Erforschung der Wasserpflanzensorten im Labor hat bereits begonnen. So haben beide Partner eine Grundlage für die Extraktion von Stoffen und Molekülen aus dem Meer und ihre Anwendung für Ernährungszwecke als Alternativen zu landgebundenen Lebensmitteln geschaffen.
WAS MACHT SEEGRAS ZUM „SUPERFOOD“?
Sein Gehalt an Kohlenhydraten beträgt annähernd 82 % (davon mehr als 50 % Stärke), der Proteingehalt beläuft sich auf 13 % (FAO-Score 71), Fett macht weniger als 2 % aus ‒ der Rest sind Ballaststoffe und zahlreiche Mineralien. Auch B-Vitamine (mindestens B1, B2 und B3) sowie wichtige Fettsäuren wie Omega-3 und 6 sind in hoher Konzentration vorhanden.