Welchen Herausforderungen steht die aktuelle Landwirtschaft global gesehen gegenüber?
Zum einen sehen wir uns damit konfrontiert, dass das Bevölkerungswachstum auf 10 Mrd. Menschen bis 2050 zu einer um 50% höheren Nachfrage nach Nahrungsmitteln führen wird. Da wir in Zukunft auch mehr tierische Produkte benötigen, müssen bis zu 70% mehr pflanzliche Nahrungsmittel erzeugt werden – und das auf gleichbleibender oder vielleicht sogar geringerer Fläche. Denn allein in Deutschland gehen der Landwirtschaft jeden Tag ein Äquivalent von 73 Fußballfeldern zur Bewirtschaftung verloren.
Diese erhöhte Produktion muss zudem mit weniger Arbeitskräften bewältigt werden. Wie in vielen anderen Industrien auch ist qualifiziertes Personal Mangelware, da bildet die Landwirtschaft keine Ausnahme. Zum anderen kultiviert ein landwirtschaftlicher Betrieb mit ca. 2500 ha, wie er in den USA, in Südamerika oder im Osten Europas nicht untypisch ist, bis zu 100 Millionen Pflanzen.
Was bedeutet das für die Landwirtinnen und Landwirte heutzutage?
Landwirte bewirtschaften immer größere Flächen und trotzdem geht es am Ende um die richtige Behandlung jeder einzelnen Pflanze, um ihr genau die richtigen Nährstoffe zukommen zu lassen, um sie von Pilzen oder Insekten zu befreien und um sie schließlich auch sicher zu ernten.
Das ist auch ein Rennen gegen die Zeit. Während des Pflanzens, während der Aussaat hat der Landwirt ungefähr 10 Tage Zeit, um das Saatgut in den Boden zu bekommen. Verpasst er dieses Zeitfenster, dann wirkt sich das negativ auf den Ertrag aus. In der Wachstumsphase können Beikräuter täglich bis zu 10 cm wachsen. Das heißt, der Landwirt hat nicht viel Zeit, Pflanzenschutz auszubringen und damit die Nutzpflanze davor zu bewahren, dass das Beikraut der Nutzpflanze die Nährstoffe entzieht. Ungefähr 60-70% der Kosten für eine Ernteeinheit wendet der Landwirt für Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel auf. Zusammenfassend bedeutet dies, dass der Landwirt über die Saison tausende von Entscheidungen zu treffen hat.Wie kann das Ziel erreicht werden, die Qualität der Nahrungsmittel zu erhöhen und Dünge- und Pflanzenschutzmittel zu sparen?
Höhere Präzision, die durch Digitalisierung ermöglicht wird. Das Ziel der modernen Landwirtschaft, einer Landwirtschaft 4.0 ist es, individuell auf die Bedürfnisse jeder einzelnen Pflanze eingehen. Auf den Feldern sieht die Realität vielerorts noch anders aus: Felder werden nach wie vor als eine homogene Einheit betrachtet und entsprechend einheitlich gesät, gedüngt, gespritzt und geerntet. Unsere Industrie arbeitet hartnäckig daran, dass diese Bilder der Vergangenheit angehören.
Was ist denn der nächste Schritt in Richtung Landwirtschaft 4.0?
Wir bewegen uns hin zur Zone. Die teilflächenspezifische Bearbeitung von Feldern nimmt zu, um besser auf die Bedürfnisse der Pflanzen eingehen zu können. Dabei sind wir noch weit weg von der einzelnen Pflanze. Das Beispiel zeigt einen Sensor vor einem Traktor mit einem Mineraldüngerstreuer. Ausgerüstet mit einer Multispektralkamera kann der Sensor den Chlorophyll-Gehalt der Pflanzen messen und daraus auf die Biomasse schließen. Viel Biomasse kann viele Nährstoffe aufnehmen und dementsprechend kann die Düngemenge auf die Bedürfnisse der Pflanzen in einer Zone angepasst werden.
Noch genauer lässt sich die bedarfsgerechte Ausbringungsmenge ermitteln, wenn beispielsweise mit Hilfe historischer Biomasse-Karten, die von Satelliten aufgenommen wurden, ein Abgleich zwischen dem historischen Potential und Ist-Zustand in den einzelnen Zonen vorgenommen und die optimale Düngemenge für die Zone daraus abgeleitet wird.
Welche Rolle spielt dabei die Sensorik?
Bei einem weiteren Beispiel für die Düngung in Zonen wird der Mineraldüngerstreuer durch ein Güllefass mit NIR-Technologie ersetzt. Mit Hilfe der Nahinfrarot-Technologie können die Inhaltsstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kohlenstoffdioxid, gemessen werden. Damit lässt sich Wirtschaftsdünger fast genauso exakt und zielgerichtet einsetzten wie Mineraldünger. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass jedes Kilogramm mineralsicherer Dünger, welches durch Wirtschaftsdünger ersetzt wird, dabei hilft CO2 zu sparen. Denn die Herstellung von Mineraldünger ist mit hohen CO2-Emissionen verbunden.
Kommen bei all der Hightech auch noch mechanische Bearbeitungsformen zum Einsatz?
Ja, auch einzelne Reihen können schon individuell bearbeitet werden. Unkraut lässt sich auch mit einer Hacke, die mittels Kamera und eines doppeltwirkenden Zylinders am Unterlenker des Traktors exakt zwischen den Reihen geführt wird. Mit einem solchem System kann schnell zwischen den Reihen gefahren und damit annähern dieselbe Produktivität wie beim Spritzen erreicht werden. Allerdings wird durch das Hacken des Bodens CO2 frei, was wiederum zu einer Belastung der Umwelt führt. Das heißt, in der Landwirtschaft ist es oftmals nicht so einfach die optimale Lösung zu finden.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Was ist da möglich?
Das ultimative Ziel ist die Behandlung einer jeden einzelnen Pflanze. Das ist heute noch die absolute Ausnahme, hat aber das größte Potential für die Reduzierung des Dünger- und Pestizideinsatzes. In unserem Beispiel mit einer selbstfahrenden Feldspritze nehmen 36 Kameras Bilder von jeder einzelnen Pflanze auf und unterscheiden mithilfe eines neuronalen Netzes, welches mit Millionen von Bildern trainiert wurde, ob es sich um Beikraut oder eine Nutzpflanze handelt. Individuelle Düsen spritzen dann das Beikraut, nicht aber die Nutzpflanze. Mit einem solchen System können bis zu 90% an Herbiziden eingespart werden.
Und wie die Zukunft der Landwirte im Zusammenspiel mit den Maschinen aus?
Es gibt bereits vollautonome Traktoren, ausgestattet mit sechs Stereokameras, die das Umfeld erkennen und dementsprechend autonom das Feld beackert. Diese Maschinen sind mit viel Technologie und Sensorik ausgestattet. Sie können sehr viele Entscheidungen selbst übernehmen. Vertrauen ist wichtig, dass muss sich unsere Industrie verdienen und das geht nicht von heute auf morgen, aber Vertrauen ist die essenzielle Voraussetzung für solche Systeme. Das heißt nicht, dass der Landwirt in Zukunft keine Aufgaben mehr hat, aber er wird sich anderen Aufgaben widmen können, und wir können ihm dabei helfen, diese Entscheidungen noch sicherer zu treffen.
bitkom: Mit digitaler Technik nachhaltiger produzieren – Stefan Stahlmecke auf der Digital Farming Conference im Mai 2022