Domenico Vivino, Miriam Pugliese und Giovanna Bagnatos Wurzeln reichen in eine ferne Vergangenheit zurück, als ihre Großeltern noch von der Landwirtschaft lebten. „Die Leidenschaft wurde von Generation zu Generation weitergegeben und ermöglicht es uns noch heute mit der Natur in Kontakt zu sein und das echte Leben zu genießen.“ So denken die jungen Süditaliener der Kooperative Nido di Seta in San Floro. Das kleine kalabrische Unternehmen wurde 2014 gegründet, um einem ungenutzten städtischen Grundstück, auf dem mehr als 3.000 Maulbeerbäume stehen, neues Leben einzuhauchen.
Mit viel Mut und Willenskraft sind die jungen Leute nach dem Studium in ihre Heimatregion zurückgekehrt und haben die alte Tradition der Seidenraupenzucht, die in Süditalien seit dem 12. Jahrhundert praktiziert wird, wiederbelebt. „In der Vergangenheit war die Seidenraupenzucht in unserer Gegend die vorherrschende Tätigkeit“, erzählen sie.
„Wir haben beschlossen, einen Teil unserer Geschichte wieder aufleben zu lassen, indem wir sie auf zeitgemäße Weise interpretieren und eine kleine kalabrische Seidenstraße aufbauen. Dies beginnt beim Boden und den zugehörigen Ressourcen, über die Raupenzucht bis hin zum Endprodukt, und alles mithilfe einer vollständigen handwerklichen Produktionskette. 100 % italienische Seide, handgewebt auf einem Webstuhl und gefärbt mit natürlichen Produkten.“
Robuste Pflanzen zum Schutz des Bodens
Auf 7 ha baut Nido di Seta verschiedene Arten von Maulbeeren an, darunter Morus Alba und Morus Nigra. Die vorherrschende Sorte ist die koreanische Kokuso, die sehr große Blätter produziert, aber auch die weißen Maulbeeren Cattaneo und Florio werden angepflanzt. Die Blätter dienen als Futter für die Seidenraupen, die in gut belüfteten und desinfizierten Räumen leben, in denen sowohl die Luftfeuchtigkeit als auch die Temperatur überwacht wird.
Die Pflege der Maulbeerbäume beginnt im Mai und dauert bis zum Spätsommer/Frühherbst. Sie hängt eng mit dem milden Klima und dem Vorhandensein von Blättern zusammen. Das Schneiden der Maulbeerbäume – Vivino zufolge die anstrengendste Tätigkeit – erfolgt in zwei Zeiträumen: Ende Mai steht dabei die Förderung des Blattwachstums im Mittelpunk, während es in der Zeit Ende Januar um die Erzeugung von Bio-Maulbeeren geht.
Die Pflanzen sind äußerst robust, schützen den Boden vor hydrogeologischen Instabilitäten, benötigen keine spezielle Bewässerung und werden mit Biospänen, die aus dem kompostierten Kot der Raupen gewonnen werden, gedüngt. „Zu den am weitesten verbreiteten Krankheiten gehört Mycosphaerella morifolia“, berichtet Vivino, „auch bekannt als ‚Fersa des Maulbeerbaums‘, eine Pilzkrankheit, die hier glücklicherweise von uns stark eingedämmt wurde. Wir ernten die Blätter von Hand: Je jünger die Raupen sind, desto zartere Blättchen, die sich an den Spitzen der Zweige befinden, benötigen sie.“
35 kg Naturseide pro Jahr
Die Maßeinheit der Züchter ist der sogenannte Rahmen, der 20.000 Seidenraupeneier, auch Samen genannt, enthält. Der wissenschaftliche Name dieses Schmetterlings lautet Bombyx mori. In der Natur ist er mittlerweile ausgestorben und überlebt nur noch in Zuchtbetrieben. Die Ernährung basiert ausschließlich auf Maulbeerblättern. Jeder erwachsene Falter legt im Durchschnitt 500 Eier. Ein Larvenzyklus dauert etwa 30 Tage und beinhaltet vier Häutungen. An seinem Ende steht der „Aufstieg ins Holz“, so wird der Moment, in dem die Seidenraupe – oft an trockenen Zweigen – den Seidenkokon spinnt, genannt.
Das Knäuel des Kokons besteht aus einem Endlosenfaden, der dank genetischer Kreuzungen bis zu 2 Kilometer lang werden kann. Der Weiterverarbeitungsprozess beginnt mit dem Kokon, durch Abhaspeln und Verzwirnen entstehen schließlich die natürlichen Seidenfäden. „In einem Jahr durchlaufen wir vier Larvenzyklen“, erklärt Domenico Vivino.
„Dafür benötigen wir fünf Rahmen (100.000 Eier). Im Sommer züchten wir wegen der hohen Temperaturen weniger Tiere. Insgesamt produzieren wir etwa 100 kg frischer Kokons pro Jahr. Aus einem Rahmen gewinnen wir in der Regel 6-7 kg Rohseide. Wir verkaufen keine Kokons, und der Vertrieb der Seidenstränge erfolgt nur in geringem Umfang an Handwebereien in ganz Italien. Über E-Commerce und in unserem eignen Geschäft dagegen verkaufen wir eine Vielzahl von Fertigprodukten – von Schals und Tüchern bis hin zu Schmuck und Accessoires. Sämtliche Produkte sind handgewebt, mit natürlichen Pigmenten, Ecoprint- und Batik-Technik gefärbt und in Zusammenarbeit mit verschiedenen italienischen Künstlern und Handwerkern sowie mit Hilfe von Partnern in unserer Produktionskette hergestellt. Inzwischen erhalten wir erste Anfragen von Einzelhändlern aus großen Städten wie Rom oder Florenz.“
Die Seidenraupenzucht ist nicht nur ein Geschäft, sondern eine Leidenschaft.
Domenico Vivino
Ein funktionierender vollständiger Kreislauf
Von der Landwirtschaft bis zum Handwerk wird das Ziel eines authentischen, nachhaltigen und erlebnisorientierten Tourismus verfolgt. Die Suche nach dem Geist der Orte und den Geheimnissen dieser tausendjährigen Technik spielt ebenfalls eine Rolle. Viele Touristen aus der ganzen Welt kommen nach San Floro, denn hier können sie sämtliche von Nido di Seta zertifizierten Bioprodukte ausprobieren.
Dazu gehören beispielsweise Marmeladen aus der Maulbeerensorte Sorosi, Tees aus Maulbeerblättern und verschiedene saisonale Gemüsesorten, die auf der Speisekarte des betriebseigenen Bauernhofs angeboten werden. Darüber hinaus ist auch möglich, eine Patenschaft für Maulbeerbäume zu übernehmen. „Wir glauben nicht an eine isolierte Landwirtschaft“, meint Domenico. „Insbesondere im Bereich der Seidenraupenzucht sind Multifunktionalität und Diversifizierung wichtige Schlüsselbegriffe.
Dank unserer Produktionskette – bestehend aus kalabrischen Landwirten und Handwerkern – arbeiten wir Tag für Tag jenen Kreislauf, der handwerkliche, kulturelle, künstlerische und kulinarische Aspekte miteinander verbindet und unsere Heimat zu einem Anziehungspunkt für den nationalen und internationalen Tourismus macht.“ Der Weg dahin war jedoch nicht einfach.
Eine der anfänglichen Schwierigkeiten, mit denen sich die Züchter konfrontiert sahen, war der Mangel an Wissen, um alte Verarbeitungstechniken wieder aufnehmen und umsetzen zu können. „Um an dieses Wissen zu gelangen, wurden wir Schüler vieler älterer Menschen, den letzten Erben einer jahrhundertealten Seidentradition in unserer Region. Um ihr Wissen in der Praxis umzusetzen zu können, reisten wir weit über die Grenzen Europas hinaus. So wurde unsere anfängliche Schwäche zu einem Vorteil und schließlich sogar zu einer Stärke.“
Träumen in noch größeren Dimensionen
Die Kooperative unterhielt zunächst eine Partnerschaft mit dem Khon Kaen Sericulture Institute in Thailand, absolvierte später eine spezielle Ausbildung am Central Silk Board in Bangalore, Indien, und entdeckte in Mexiko weniger konventionelle Seidenverarbeitungsmethoden und neue natürliche Farbstoffe. Darüber hinaus wurden europäische Partnerschaften mit dem Verein Soierie Vivante in Lyon, Frankreich, geknüpft und verschiedene Kooperationen geschlossen, beispielsweise mit Swiss Silk, der Vereinigung Schweizer Seidenproduzenten in Hinterkappelen, und mit Arsac Mirto in Crosia, der University of Texas, der Toronto Fashion Academy, der Aalto University in Helsinki, der Universität von Kalabrien und der Polytechnischen Universität Bari.
„Mit einigen dieser Organisationen sind wir immer noch verbunden“, verrät Vivino, „denn über die Nido di Seta Academy bieten wir Workshops zur Weiterbildung im Bereich der traditionellen Garnverarbeitungstechniken an. Zu den wichtigsten Partnerschaften gehört die Organisation, die uns direkt mit Samen versorgt: die Crea-Api in Padua unter der Leitung von Dr. Silvia Cappellozza, die sich mit der Erforschung und Erprobung der Seidenraupenzucht und der Produktion von Seidenraupensamen beschäftigt.
Unsere Zukunftsvision sieht ein Szenario vor, in dem die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung auf einer Rückbesinnung auf das Land, seine Früchte und seine Werte beruht; eine Lebens- und Arbeitseinstellung, bei der dem direkten Kontakt mit der Natur und der Aufwertung der lokalen Ressourcen mehr Raum gegeben wird. Deshalb möchten wir den Anbau von Maulbeerbäumen und die Seidenraupenzucht weiter ausbauen: Unser Traum ist es, eine echte Genossenschaft für kalabrische Seide zu schaffen, und wir lassen uns von unseren Träumen für gewöhnlich nicht abbringen.“