Viele nennen ihn nur den „Leindotter-Papst“. Thomas Kaisers jahrelanges Engagement für den Leindotter mündete 2014 in die Mitbegründung der Leindotter-Initiative. Seither begeistert der Germanist und Gründer des Instituts für Energie und Umwelttechnik immer mehr Menschen für die seltene Ölpflanze. „Wir waren einfach verliebt in die Pflanze, weil sie so schön wächst und sich so schön gesellt. Wir haben sie Kavalierspflanze genannt, weil sie nie die Hauptkultur überdeckt“, erklärt er. Mehr Vielfalt wollten er und seine Mitstreiter in die Fruchtfolgen bringen, den Insekten auch im Sommer eine Trachtpflanze bieten.
Wir waren einfach verliebt in die Pflanze, weil sie so schön wächst und sich so schön gesellt.
Thomas Kaiser
Die Herausforderung war groß, denn es mangelte nicht nur an Landwirten, die bereit waren, Leindotter anzubauen. Auch die Wertschöpfungskette fehlte. Unterstützung kam schließlich vom Baufarbenhersteller DAW SE mit den bekannten Marken Caparol und Alpina. Mit dem Leindotteröl wollte das Unternehmen eine nachhaltige Holzlasur entwickeln. Für dieses Vorhaben erhielt es eine Förderung des Bundesamtes für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) im Rahmen des Bundesprogramms für Biologische Vielfalt.
Dieses sogenannte „Leindotterprojekt“ (vollständiger Titel: Etablierung eines großflächigen Mischfruchtanbaus von Erbsen und Leindotter zur Stärkung von Artenvielfalt und Ökosystemleistungen und Aufbau einer Wertschöpfungskette basierend auf nachhaltig produzierten, heimischen, nachwachsenden Rohstoffen) gab dem Comeback des Leindotters den entscheidenden Anschub. In der Folge war es möglich, den Landwirten zum Start eine Abnahmegarantie für ihren Leindotter zu geben.
Leindotter bringt weniger Ertrag als Raps
Das überzeugte auch Landwirt Herbert Miethke aus Dolgelin in Brandenburg, sich an den Leindotteranbau zu wagen. Thomas Kaiser begeisterte ihn für die Ölpflanze, die er 2019 erstmals auf seinem erst kurz zuvor auf Biolandwirtschaft umgestellten Betrieb anbaute – damals noch als Zweitfrucht in Reinkultur. Inzwischen ist Miethke wegen des höheren Ertragspotentials zum Anbau in Mischkultur mit Serradella übergegangen.
Auf etwa 150 Hektar des 800 Hektar großen Betriebs wächst nun Leindotter. In Durchschnittsjahren bringt das einen Ertrag von etwa 1 t/ha; dieses Jahr zum ersten Mal 1,5 t/ha. Damit bringt Leindotter im Vergleich zu den üblichen 3,5 t pro Hektar Winterraps zwar wenig Ertrag. Doch dabei sollten zwei Aspekte beachtet werden: Erstens wurde Leindotter im Gegensatz zum Raps in den letzten Jahrzehnten kaum züchterisch bearbeitet. Zweitens wächst er auf marginalen Standorten, wo Raps keine Chance mehr hat. „Das sind völlig unterschiedliche Anbaugebiete“, bemerkt Kaiser.
Auf den mageren Böden Brandenburgs, wo man beinahe nur noch Roggen anbauen kann, sorgt Leindotter für eine willkommene Abwechslung und eine zusätzliche Einnahmequelle. Dazu kann Leindotter mit einem entscheidenden Vorteil aufwarten: Er macht kaum Arbeit. „Man wirft ihn aus und erntet ihn irgendwann wieder“, erklärt Kaiser. Dazu sind die Kosten für die Aussaat mit 20 €/ha unschlagbar niedrig, weil das Saatgut keinem Sortenschutz unterliegt.
Heimischer Leindotter ersetzt importiertes Leinöl
Der Brandenburger Landwirt gehört nicht nur zur Fangemeinde des Kreuzblütlers. Inzwischen kümmert er sich im Anschluss an das ausgelaufene Leindotterprojekt auch um den Aufbau der Wertschöpfungskette. Im Lebensmittelbereich wird das Öl zwar geschätzt, doch die Mengen ließen sich noch steigern. Das Interesse der Farbindustrie am Leindotteröl spielt deshalb eine zentrale Rolle – umso mehr, da das Chemieunternehmen Worlée den Leindotteranbau auch nach Projektende weiter vorantreibt. Im Dienste des Klimas will Worlée die großen Mengen importierten Leinöls zunehmend durch heimisches Leindotteröl ersetzen. „Im Moment kann es noch nicht zu viel Leindotteröl sein“, erklärt Chemieingenieur Matthias Körber von Worlée.
Aus politischer Sicht besteht großes Interesse am positiven Einfluss des Leindotters auf die Artenvielfalt. „Im Leindotter findet man deutlich mehr Insekten als in anderen Kulturen, darunter auch 15 Arten, die auf der Roten Liste stehen“, erklärt Miethke.
Dr. Stefanie Göttig, die das Projekt wissenschaftlich begleitet, pflichtet dem bei: „Als gelbblühendes Kreuzblütengewächs, das in der sonst blütenarmen Zeit von Juni bis August blüht, spricht Leindotter viele Insektenarten an“ – darunter auch Schwebfliegen und gefährdete Wildbienenarten.
In der konventionellen Landwirtschaft könnten Anbaukonzepte, wie der Anbau von Leindotter und Erbsen in Mischkultur, einen Beitrag dazu liefern, die negativen Auswirkungen der intensiven Landwirtschaft auf die Artenvielfalt zu vermindern, so Göttig. Eine großartige Chance, wenn man bedenkt, dass Leindotter im Gegensatz zu den sonst im Naturschutz beliebten Brachen oder Blühstreifen auch Ertrag bringt.
Eine Kultur für magere Böden
Auch Öllein kann in Deutschland angebaut werden. Aber der ist wenig beliebt. „Leindotter hat dem Lein gegenüber viele Vorteile“, berichtet Dr. Katharina Spethmann, die sich vor Miethke um den Aufbau der Wertschöpfungskette kümmerte. Auf sehr leichten Böden ist Leindotter dem Lein vorzuziehen. Es macht wenig Sinn, Leindotter auf guten Standorten anzubauen, weil er dort wenig wettbewerbsfähig ist. „Wir haben viele Landwirte, die noch auf Flächen mit 20 Bodenpunkten anbauen. Das funktioniert gut.“ Hier eine Fruchtfolge zu etablieren ist eine große Herausforderung, bei der der Kreuzblütler unterstützen kann. Leindotter sei eine gute Gesundungs- und Vorfrucht, lobt Miethke.
Wir haben viele Landwirte, die noch auf Flächen mit 20 Bodenpunkten anbauen. Das funktioniert gut.
Dr. Katharina Spethmann
Leindotter entzieht dem Boden Stickstoff, was ihn insbesondere für Wasserschutzgebiete zu einer interessanten Kultur macht. Eine geringe Düngergabe mit 40 bis 60 Kilogramm Stickstoff je Hektar im Reinfruchtanbau sei möglich, aber nicht notwendig für diese genügsame Kultur.
Robuste Pflanze gegen Trockenheit
Auch Trockenheit macht der Ölpflanze nichts aus, sofern die Körner genügend Feuchtigkeit zum Keimen hatten. So wird Landwirt Miethke nicht müde zu betonen, dass Leindotter in feuchten Boden gedrillt werden muss. Deshalb sät er so früh wie möglich im März und bis zu 1,5 cm tief, damit das Korn nicht trocken liegt. Gelingt der Start, für den sich der Kreuzblütler viel Zeit lässt, wächst Leindotter schnell und beeindruckt mit erfolgreicher Unkrautunterdrückung sowie der positiven Humusbilanz.
Kultur mit geringem Risiko
Im Mischfruchtanbau, vor allem mit Erbsen, bietet Leindotter Sicherheit: Kommen die Erbsen schlecht, kann man noch den Leindotter ernten. Der Anbau als Zweitfrucht wiederum ermöglicht es, die Anbaufläche über die gesamte Vegetationsperiode voll auszunutzen. Die etwa 100 Tage von Ende Juli bis Mitte Oktober genügen den Leindotterkapseln zum Ausreifen. Damit steht die Pflanze anderen Kulturen nicht im Wege und schafft einen Mehrertrag auf der Fläche. Die geringen Kosten und der geringe Arbeitsaufwand trösten darüber hinweg, dass dieser eher gering ausfällt.
Praktisch für die Arbeitsorganisation auf dem Betrieb sind die festen Samenkapseln, die nicht aufplatzen. Dadurch ist die Kultur nicht nur robust gegen Hagelschlag. Auch die Ernte mit dem Mähdrescher kann passend zum Betriebsablauf eingetaktet werden. Die Saatgutreinigung ist simpel – auch, weil die Qualität anders als in der Lebensmittelverwendung nur eine geringe Rolle spielt. „Klar, es darf kein Gammelhaufen sein. Aber ich konnte teilweise direkt aus dem Mähdrescher verkaufen. Ein Windsichter reicht da eigentlich“, berichtet Miethke.
Es gibt auch Nachteile
Wo Vorteile sind, gibt es auch Nachteile. Das Problem des Leindotters ist vor allem, dass ihn kaum noch einer kennt. Weil die Anbauflächen so gering sind, gab man die Züchtung auf. Hybride Sorten gibt es nicht. Aus dem gleichen Grund sind auch kaum Pflanzenschutzmittel für Leindotter zugelassen. „Er verträgt aber auch so gut wie gar nichts“, berichtet Spethmann.
Passen die Saatbedingungen nicht oder ist das Saatbett nicht sauber, verbessert das die Startposition der Unkräuter. Jedes Unkraut mit besseren Startbedingungen als der Leindotter würde dann zum Problemunkraut. „Aber wenn das Saatbett sauber ist, kenn ich kein Unkraut, das den Leindotter überwächst“, so Miethke. Sogar Melde und Quecke drängt Leindotter dann zurück. Wurzelexudate dürften dabei eine Rolle spielen. Diese beeinträchtigen allerdings auch das Wachstum von Öllein, der deshalb besser nicht in einer Fruchtfolge mit Leindotter angebaut werden sollte.
Abnahmegarantie und gute Preise
Worlée zahlt 2023 für Bio-Leindotter mindestens 700€ pro Tonne und etwas weniger für konventionelle Ware. Das gibt den Landwirten in Zeiten volatiler Märkte Sicherheit. „Wenn man dann auf einem ganz leichten Boden immer noch 1,5 Tonnen erntet und insgesamt wenig Input-Kosten hatte, bietet die Pflanze auch bei geringeren Erträgen noch einen hohen Deckungsbeitrag und gleichzeitig ein sehr niedriges Risiko“, erklärt Spethmann.
Ich sehe Potential, dass mehr Leindotter für noch mehr Produkte gebraucht wird und der Anbaubedarf steigt.
Matthias Körber
Für die Wirtschaftlichkeit des Anbaus ist es von Bedeutung, neben der Farbindustrie andere Absatzmärkte zu erschließen oder auszubauen. So förderte die Aufnahme des Leindotter-Presskuchens in die Positivliste für Einzelfuttermittel das Interesse der Futtermittelindustrie am Leindotter. „Das ist wichtig, weil dadurch das Leindotteröl günstiger wird, sogar konkurrenzfähig zu importiertem Leinöl“, erklärt Körber von Worlée. Ebenso wie das Chemieunternehmen lege auch die Futtermittelindustrie Wert auf verlässliche Produktionsmengen. Dazu müsse die Anbaufläche noch ausgebaut werden. „Ich sehe Potential, dass mehr Leindotter für noch mehr Produkte gebraucht wird und der Anbaubedarf steigt“, so Körber.
Eine einheimische Rohstoffquelle
Innovationen im Lebensmittelbereich bestärken die Hoffnung auf ein anhaltendes Revival des Leindotteranbaus. Wer mag, kann bereits Pesto mit Leiderotteröl oder Leindottersalz mit Leindottermehl probieren. Aus Ernährungssicht eine gute Idee, denn die Zusammensetzung an essentiellen Aminosäuren im Leindotter entspricht ziemlich genau den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation für die menschliche Ernährung. Damit beschäftigt sich auch der Forschungsverbund MV e.V. in Rostock.
Vielleicht verschafft auch der Eiweiß-Trend im Lebensmittelsektor dem Leindotter einen Schub, wenn bekannt wird, dass die Samen neben 40% Öl auch 40% Eiweiß enthalten. Nicht zuletzt ist Leindotter eine einheimische Rohstoffquelle, die auch dann verfügbar ist, wenn globale Handelsströme ins Straucheln geraten – ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wie das letzte Jahr gezeigt hat.