Der Landwirt Tom Martin ist der Gründer von Farmer Time, einer international erfolgreichen Initiative, die Kindern dabei hilft, mehr über Lebensmittel, Landwirtschaft und die Umwelt zu lernen. Das Projekt beamt Landwirtinnen und Landwirte per Videoanruf – über ein Mobiltelefon oder einen Computer – von ihren Betrieben direkt in Klassenräume im ganzen Land, um sowohl das Landleben als auch ganze Schulfächer zum Leben zu erwecken. Dieses Projekt hat sich als fantastisches Werkzeug entpuppt, das Neugier, Spaß und Einsatz entfacht.
„Die Kinder von heute sind die Verbraucher, Arbeitskräfte und Politiker von morgen“, so Tom. „Wir möchten ihnen einen vielseitigen und unterhaltsamen Unterricht bieten, in dem sie mehr über Lebensmittel, Landwirtschaft und das Landleben lernen – und warum diese Dinge so wichtig sind. Wir möchten ihnen vermitteln, dass sie dort Perspektiven haben und dass sie auch in diesem Bereich eine berufliche Zukunft haben können.“
Die Kinder von heute sind die Verbraucher, Arbeitskräfte und Politiker von morgen.
Tom Martin
Das Projekt, das sich nun in seinem sechsten Jahr befindet und mit der Wohltätigkeitsorganisation LEAF (Linking Environment and Farming; dt. Umwelt und Landwirtschaft verbinden) zusammenarbeitet, konnte allein im Vereinigten Königreich 30.792 Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren direkt erreichen – und damit über 53.596 Unterrichtsstunden begleiten. „Jede Partnerschaft ist anders und sowohl auf die Bedürfnisse der Klassen als auch der teilnehmenden Landwirtinnen und Landwirte zugeschnitten – die einzige Grenze ist die Fantasie der Teilnehmenden“, so Tom.
Und das Projekt schlägt weitereichende Wellen. „Der Nutzen der Gespräche zwischen den Kindern und ihren Lehrern reicht über den Klassenraum hinaus – die unterhaltsame Vorgehensweise weckt ihr Interesse am Thema.“ International hat das Projekt weitere 28.219 Kinder in fünf Ländern erreicht, und zwar in Schweden, Finnland, Australien, Neuseeland und Irland – Anfang 2022 ist außerdem Südafrika beigetreten.
Wie Landwirte und Schulen zusammen kamen
Wie hat also alles angefangen? Tom Martin stammt aus einer Landwirtsfamilien und hatte daher die Landwirtschaft schon immer im Blut. Bevor er vor sieben Jahren zur Landwirtschaft zurückkehrte, arbeitete er in verschiedenen Branchen, darunter 10 Jahre in der Filmindustrie.
Er fragte in den sozialen Medien, ob es Lehrerinnen und Lehrer oder Schulen gebe, die Interesse daran hätten, alle paar Wochen einen Videoanruf aus dem Klassenzimmer zu einem landwirtschaftlichen Betrieb durchzuführen, und er war überwältigt von der Reaktion.
2017 erhielt Tom von der East of England Agricultural Society (Landwirtschaftsgesellschaft Ostengland) finanzielle Unterstützung, um an der Konferenz der Royal Agricultural Society of the Commonwealth (Königliche Landwirtschaftsgesellschaft des Commonwealth) in Singapur teilzunehmen. Danach begann er darüber nachzudenken, wie man die Videotechnik nutzen könnte, um junge Menschen effektiv an die Landwirtschaft heranzuführen.
„In unserm Land war das Interesse an Lebensmitteln und Landwirtschaft nie größer; es gab offensichtlich eine große Nachfrage und mir wurde klar, dass dies eine Riesenchance war.“ Er testete das Konzept mit der Lehrerin Olivia Mellor an einer entfernt gelegenen städtischen Schule. „Ich wollte mit den Kindern sprechen, die am wenigsten Erfahrung mit dem Landleben hatten, und bei denen Standortunterschiede durch Echtzeitvergleiche, z. B. des Wetters, möglich waren“, so Tom. Daraus entstand das Projekt; 2018 kontaktierte Tom dann die Lernorganisation LEAF, um eine kooperative und förderliche Partnerschaft aufzubauen.
Tabitha Salisbury, Bildungskoordinatorin bei LEAF, ist seit zweieinhalb Jahren Teil des Farmer-Time-Teams. „Toms Projekt hatte unglaubliches Potential und es gab eine große Nachfrage danach“, erklärt sie. „LEAF ist mit eingestiegen, um die Bildungs- und Koordinationsressourcen bereitzustellen, die nötig waren, um mehr Schulen zu erreichen, und um Sponsoren für zusätzliche Mittel und Reichweite zu gewinnen.“
Zeit für Landwirtschaft: Farmer Time
Das Projekt hieß ursprünglich „Facetime a Farmer“, wurde aber 2020 in „Farmer Time“ umbenannt. „Die zusammengestellten Teams aus Lehrern und Landwirten tauschen sich im Vorfeld darüber aus, was die Kinder in der Schule lernen sollen“, erklärt Tabitha. „Dann sprechen sie darüber, wie ein Thema mit dem landwirtschaftlichen Alltag verbunden werden kann und bereiten dann einige Aufgaben für vor und nach den Sitzungen, um die Lernerfahrung zu vertiefen.“
Sitzungen bei Farmer Time dauern in der Regel ca. 20 Minuten inklusive Fragen – das Ziel ist es, den Unterricht so unterhaltsam und interaktiv wie möglich zu gestalten, um die Kluft zwischen Stadt und Land zu überwinden. Einige Kinder werden zum ersten Mal eine Milchkuh sehen und lernen, wo die Milch herkommt, während andere weitergehende Gespräche über gesellschaftliche Themen wie Klimawandel und Berufe in der Landwirtschaft führen.
„Wir führen absichtlich Landwirtinnen und Landwirte und Schulen aus unterschiedlichen und gegensätzlichen Gegenden zusammen“, so Tabitha. „So werden die Kinder dazu angeregt, rauszugehen – bei ihrem nächsten Farmer-Time-Anruf möchten sie dann darüber reden, was sie gesehen haben, und es mit dem zuvor Gehörten und Gesehenem vergleichen.“
Die teilnehmenden Landwirtinnen und Landwirte sind auch dazu eingeladen, der Twitter-Gruppe beizutreten. „Es ist eine gute Möglichkeit für sie, ihre Erfahrungen auszutauschen – welche Themen sie bearbeiten und wie sie sie mit ihrem landwirtschaftlichen Alltag verbinden“, so Tabitha. „Es ist ein sehr positiver Ort mit viel Ideenaustausch.“
Lehrerin Olivia und ihre Schulklasse
Nur 20 Minuten außerhalb der wohlhabenden Geschäftigkeit von Brighton liegt Olivias Schule, mit einer Vielzahl aufgeweckter Kinder. „In der Gegend herrscht ein gewisser Mangel“, erklärt Olivia. „Die meisten Kinder haben trotz der Nähe zum Land und zur Küste wenig Erfahrung mit der Natur, und was sie mit den Lebensmitteln auf ihren Tellern zu tun hat.“
Olivia, die von den Vorteilen von Aufenthalten in der Natur überzeugt ist, war auf der Suche nach unterhaltsamen und interaktiven Wegen, die britische Natur ins Klassenzimmer zu holen. „Ich sah Toms Facebook-Post und habe darauf geantwortet – genau danach hatte ich gesucht.“
Der wesentliche Sinn besteht darin, Kindern eine ganzheitliche Erfahrung zun bieten, an der sie wachsen und anhand derer sie gute Entscheidungen treffen können.
Olivia Mellor
Olivia und Tom, die nun seit sechs Jahren zusammenarbeiten, haben bisher für 180 Kinder im Alter von 10 bis 11 und seit kurzem 7 bis 8 Jahren das Landleben zum Leben erweckt. „Jedes Kind erlebt über Videoanrufe während des gesamten Schuljahres einen vollständigen Jahresszyklus auf dem landwirtschaftlichen Betrieb“, erklärt Olivia. „Wenn wir Tom anrufen, befindet er sich irgendwo auf seinem Hof, wo er demonstrieren kann, was wir im Unterricht besprochen haben – egal ob das bei seinem Misthaufen oder auf seinem Mähdrescher ist.“ Die Kinder freuen sich sehr auf Farmer Time. „Sie mögen besonders die Sitzungen, in denen es um Fauna und Flora geht – und Toms Hund.
Die Aufgaben im Anschluss erledigen sie mit viel Spaß und Freude: Tom hat uns einige Bohnen- und Getreidesamen zum Einpflanzen geschickt – es war toll für die Kinder, sehen und anfassen zu können, was er anbaut, und das mit ihren eigenen Lebensmitteln zu verbinden.“ Über die Jahre hat Olivia gelernt, wie man eine hochwertige Unterrichtsstunde aufbaut. „Regelmäßige Anrufe sind von großem Wert“, erklärt sie. „Die Kinder und Tom konnten so eine harmonische Beziehung aufbauen, was sehr wichtig ist, besonders für die zurückhaltenderen Kinder.“
Auch die Arbeit mit Fachausdrücken hat sich als sinnvoll erwiesen; Olivia schreibt vor und während des Anrufs Wörter an die Tafel, um den Kindern beim Verständnis landwirtschaftlicher Fachausdrücke zu helfen. Der Kontext aus der Praxis hilft den Kindern, die Theorie zu verstehen. „Größe und Zahlen sind zwei Dinge, die relevante Zusammenhänge erfordern“, so Olivia. „Erzählt man Kindern wie viele Hektar das größte Feld eines Landwirtschaftsbetriebs hat, schauen sie verwirrt drein, da sie keine visuelle Referenz haben – erzählt man ihnen, wie viele Fußballfelder das sind, werden sie aufmerksam.“
Für Olivia ist Farmer Time aus vielerlei Hinsicht wichtig. „Es hat so viele Vorteile. Aber der wesentliche Sinn besteht darin, dass es Kindern eine ganzheitliche Erfahrung bietet, an der sie wachsen und anhand derer sie gute Entscheidungen treffen können.“ Auch für Tom gab es viele positive Erfahrungen, z. B. mit den Schafen des Betriebs Quartett zu spielen, als die Klasse Genetik besprochen hat, sowie die Einstellung der Kinder zum oft verhassten Fach Mathematik zu ändern.
Am schönsten sei es, zu sehen, wie sie Selbstvertrauen und Neugier entwickeln. „Der Vorteil einer andauernden Beziehung ist, dass die Kinder den Mut entwickeln, jede Frage zu stellen. Sie sehen einen als vertrauenswürdige Informationsquelle“, so Tom. „Am Ende eines Anrufs sind immer noch Hände oben – und die Landwirtinnen und Landwirte profitieren genauso wie die Kinder. Es gibt einem so viel zurück.“
Zukunft mit mehr Landwirtschaft im Klassenzimmer
Doch sein größter Stolz ist, dass Kinder durch Farmer Time ein realistischeres Bild davon vermittelt bekommen, was es heißt, eine Landwirtin oder ein Landwirt zu sein. „Wenn sie in den folgenden Tagen, Monaten oder Jahren Dinge hören, wie: Landwirtinnen und Landwirte interessieren sich nicht für das Tierwohl und tränken die Felder in Chemikalien‘, werden sie kritisch darüber nachdenken, da sie einen Referenzpunkt haben“, erklärt er.
Sie kennen tatsächliche Landwirtinnen und Landwirte und haben sie durch Sonne, Regen, Schnee und verschiedene Frisuren begleitet – sie haben eine Zeit lang mit ihnen zusammengelebt.
Tom Martin
„Sie werden denken: ‚Moment mal, ich kenne einen Landwirt und ich weiß, dass der das nicht macht‘ oder ‚das klingt nicht nach etwas, das der machen würde‘. Sie kennen tatsächliche Landwirtinnen und Landwirte und haben sie durch Sonne, Regen, Schnee und verschiedene Frisuren begleitet – sie haben eine Zeit lang mit ihnen zusammengelebt.
Daher brauchen wir mehr Landwirtinnen und Landwirte, um mehr Kinder zu erreichen – wir nehmen inzwischen auch Agronominnen und Agronomen auf. Ich würde in den nächsten fünf Jahren gerne 100.000 Kinder erreichen.“ Außerdem verändert Farmer Time Leben. „Mir fehlen nicht oft die Worte, aber vor ein paar Jahren erzählte mir ein langjähriges Mitglied bei einer Konferenz der Association of Science Educators (Vereinigung von Wissenschaftspädagoginnen und -pädagogen) in Reading, dass Farmer Time das Leben vieler Kinder verändert haben wird. Es hat den Einfluss des Projekts wirklich deutlich gemacht.“
Links für Informationen zum Projekt Farmer Time
- Das Projekt Farmer Time
- Farmer Tom auf Instagram