Es ist wohlig ruhig im Kuhstall von Ignatz Heeremann. Im neuen Gebäude in Offen-Bauweise sind sowohl Temperatur und Luftfeuchtigkeit optimal. Ein Messgerät oberhalb der Spaltenböden kontrolliert permanent Methan- und Ammoniakwerte. Der Futteranschieberoboter dreht stumm seine Runden. Der elektrische Automat fegt die Grassilage, die mit photoelektrischen Sensoren direkt am Fahrsilo auf Eiweißgehalt, pH-Wert und andere ernährungsphysiologische Parameter überprüft worden ist, in den Trog. Insgesamt acht Melkroboter, angetrieben von erneuerbaren Energien, tun ihren Dienst nach vorprogrammierter Eingabe. Die Milch fließt reichlich – die Daten auch. Und zwar fließen sie in die Leitzentrale, wo pro Schicht zwei Mitarbeiter über mehrere Bildschirme die Produktion der 400-köpfigen Milchviehherde minutiös wie bequem überprüfen.
Auch die Gesundheit der Tiere wird individuell überblickt: Körpertemperatur, Gewicht, diverse Blut- und Hormonwerte sowie die Säurezusammensetzung im Pansen sind nur einige von weiteren Daten, die in Echtzeit in eine Datenbank übermittelt und mit kluger Software grafisch anspruchsvoll aufbereitet werden.
Ergebnisse der Bitkom Studie
Willkommen in der „schönen neuen Welt der Rindviehställe“. Sieht so die Zukunft moderner Milchviehhaltung aus? Wer weiß das schon genau, aber auf jeden Fall geht die Entwicklung mit hohem Tempo dahin; denn schon heute ist die im fiktiven Stall vom fiktiven Landwirten Heeremann geschilderte Situation zu mindestens teilweise schon Praxis in vielen Ställen. So stellt sich eigentlich gar nicht mehr die Frage, ob die Digitalisierung in Viehhaltung und Landwirtschaft vollzogen wird, sondern es geht eigentlich viel mehr darum, wie und in welchem Tempo sie einkehren wird.
Wie weit die deutsche Landwirtschaft in Sachen Digitalisierung tatsächlich schon ist, demonstriert eine im Frühjahr 2020 veröffentlichte Studie, die vom Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien, (Bitkom), dem Deutschen Bauernverband und der Rentenbank gemeinsam in Auftrag gegeben wurde. Für die Erhebung wurden 500 Landwirte in Deutschland befragt. Dabei kam heraus, dass mehr als acht von zehn landwirtschaftlichen Betrieben schon digitale Technologien einsetzen und weitere zehn Prozent derzeit planen, welche in Zukunft einzusetzen.
81 Prozent
dass die Digitalisierung ihre Produktionseffizienz erhöht
In der Studie, die kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie erstellt wurde, bestätigen 81 Prozent der befragten Landwirte, dass die Digitalisierung vor allem ihre Produktionseffizienz erhöhe. 79 Prozent benennen die körperliche Entlastung als einen weiteren wichtigen Vorteil, mehr als jeder Zweite (57 Prozent) betont darüber hinaus eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Insbesondere können aber aus Sicht der meisten Landwirte Umwelt und Tiere von den Vorteilen der Digitalisierung profitieren: Die große Mehrheit von 93 Prozent ist der festen Ansicht, dass digitale Technologien helfen können, Dünger, Pflanzenschutzmittel und andere Ressourcen einzusparen. Sie ermöglichen eine umweltschonendere Produktion – Kollege Roboter hackt statt, dass die Pflanzenschutzspritze aktiviert wird. Angesichts dieser Einschätzung verwundert es nicht, dass sieben von zehn Landwirten betonen, die Digitalisierung sei prinzipiell eine große Chance für eine nachhaltigere Landwirtschaft.
40 Prozent
für das Smartphone oder Tablet
Bekannter Maßen sind GPS-gesteuerte Landmaschinen unter den Landwirten beliebt. Sie werden mittlerweile von vielen Landwirten genutzt. Aber nicht nur im Ackerbau, auch im Stall ist viel digital-gesteuertes in Bewegung. Bei fast jedem zweiten Nutztierhalter sind intelligente Fütterungssysteme bereits im Einsatz. 40 Prozent aller Landwirte arbeiten inzwischen mit Agrar-Apps für das Smartphone oder Tablet, ebenfalls 40 Prozent steuern ihren Betrieb mithilfe von Farm- oder Herdenmanagement-Systemen.
Digitalisierung in der Tierhaltung
Dass sich all diese Technologien auch auf die Arbeit der Tierärzte auswirken, liegt nahe. „Das sind Entwicklungen unserer Zeit, die sind nicht aufzuhalten“, sagt Veterinärmediziner Dr. Siegfried Moder, „man muss zwar bei Weitem nicht alles per se gutheißen und die Digitalisierung bringt allein betrachtet noch keinen Vorteil in der Tierhaltung, doch bietet eine fachgerechte Auswertung der Daten, die man durch Sensoren und Kameras erhält, für die Prophylaxe und so am Ende auch für die Tiergesundheit große Chancen.“
So ist Moder, Präsident des Bundesverbandes Praktizierender Tierärzte e. V. (bpt), in der rund 9.000 Tierärzte organisiert sind, ein bekennender Befürworter der Digitalisierung. Für den 63-Jährigen ist es daher selbstverständlich mit dem Laptop unterm Arm auf den Höfen zu agieren. „Aber wie schon gesagt, letztlich kommt es immer darauf an, was sie aus den Daten, die sie aus den digitalen Anwendungen gewinnen, am Ende machen, welche Maßnahmen sie daraus ableiten.“
Moder gibt Beispiele: „So können Sie anhand einer Temperaturmessung an der Oberfläche des Saugnapfes rechtzeitig erkennen, ob ihre Kälber gesund sind oder ob sie im Begriff sind zu erkranken. Oder nehmen Sie ,intelligente Ohrenmarken‘, die zum einen eine schnelle Ortung der Tiere ermöglichen, aber auch anzeigen, ob eine Kuh brünstig ist oder sich eine Euterkrankheit anbahnt.“
Diese neuen Ansätze des individuellen Monitorings von Tieren in einer großen Herde, so Moder weiter, offerieren ganz neue Optionen und Qualitäten der tiermedizinischen Betreuung und Diagnostik. Vorausgesetzt allerdings, dass der „Herr der Daten“, der Landwirt, diese Daten auch freimütig an die Tierärzte übermittelt. Dieser Datenfluss hat jedoch in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen etwas gelitten.
Von daher könnte die fortschreitende Telemedizin respektive Digitalisierung dazu beitragen, dass Tierärzte und Landwirte im Interesse der Tiergesundheit wieder mehr zusammenrücken. „Es kommt doch auf die Lebenseffektivität und damit auch auf die Lebenszeit der Kühe an, die leider im Durchschnitt keine drei Laktationen mehr andauert“, setzt Milchviehexperte Moder auf eine Abkehr eines zu einseitigen Schielens auf Leistung.
Apropos Schielen. Die Kuhbrille, die am Landwirtschaftlichen Bildungszentrum (LBZ) Echem entwickelt wurde, bietet auf jeden Fall einen Perspektivwechsel. Wer dieses futuristisch anmutende Gerät vor die Augen schnallt, der sieht alles aus der Sicht einer Kuh: Zweifarbig, extrem kontrastreich, mit einem Sichtfeld von 330 Grad, wovon aber nur ein relativ schmales Segment scharf ist und obendrein mit einer wesentlich langsameren Anpassungsfähigkeit der Iris. Um all dies optisch zu simulieren, braucht es eine hochkomplexe Software, wie Projektleiter Benito Weise verrät.
Wenn er zwischen den Kühen in den Ställen des EBZ herumstakt, dann mag es für den Betrachter fast ein bisschen albern ausschauen, aber diese Brille gibt jedem Halter wichtige Einblicke darin, weshalb die vermeintlich „dumme Kuh“ gar nicht dumm ist. „Wer durch diese Brille schaut, erhält eine tieferes Verständnis für die Kuh, entwickelt eine neue Empathie zum Tier“, unterstreicht Weise, der die Brille sowohl den landwirtschaftlichen Auszubildenden in Niedersachsen als auch den Klauenpflegern näherbringt.
Wer durch die Kuhbrille schaut, entwickelt eine neue Empathie zum Tier.
Benito Weise
Dabei sei, so Weise weiter, nicht nur die andersartige visuelle Wahrnehmung von Bedeutung, auch die Geräuschkulisse im Stall spielt für das Wohlbefinden eine herausragende Rolle, deshalb arbeitet man in Echem auch an der Entwicklung eines „Kuhohres“: „Gerade die Frequenzen, die der Mensch gar nicht mehr wahrnimmt, können von den Kühen als sehr störend erlebt werden.“
Digitales Herdenmanagement
Auch Reinhold Koch, Ausbilder und mitverantwortlich für das Herdenmanagement der 150 Kühe am LBZ, steht technischen Neuerungen grundsätzlich offen gegenüber. Zumal „Smart Dairy“ in seiner täglichen Arbeit fest verankert ist – ganz abgesehen davon habe der Roboter nie schlechte Laune. Vor mehreren Bildschirmen sitzend erklärt Koch, wie er kombiniert mit Brunst- und Fütterungsprogrammen umgeht.
„Wenn mir der Sensor am Halsband eine abfallende Kieferaktivität vermeldet, dann erfahren wir das schnell und können handeln“, sagt Koch. Wie vielfältig die digitalen Anwendungsbereiche schon heute sind, zeigen Themen wie die digital katalogisierte genomische Zuchtwertschätzung, die elektrische Leitwertmessung der Milch oder auch die ad-hoc-Keton-Messung. Allesamt bringen diese Techniken viele Daten, die für Milchviehhalter nicht so einfach und schnell verfügbar waren.
„Daten sind wichtig, doch sind sie nicht alles“, weiß Reinhold Koch. „Den geschulten Blick des Landwirtens kann es jedoch nicht ersetzen“, so der 57-Jährige. Seine Auszubildende Kristina Dralle, die in einigen Jahren zusammen mit ihrem Bruder den elterlichen Milchviehbetrieb im Landkreis Gifhorn übernehmen will, widerspricht ihrem Chef an dieser Stelle nicht, betont aber unmissverständlich, „Digitalisierung braucht man einfach.“