Stress kennt jeder – er gehört für viele zum Alltag dazu. In einer Leistungsgesellschaft wie in Deutschland wird jeder darauf getrimmt, im Berufsleben ständig an seine Grenzen zu gehen. Selbst im Privatleben ist der Terminkalender häufig prall gefüllt, um den Ansprüchen von Familie, Freunden und Hobbys gerecht zu werden. Ob Stress dabei als negativ oder positiv empfunden wird, hängt von der Bewertung und der Erfahrung des Einzelnen ab. Aus medizinischer Sicht ist Stress eine biologische Reaktion des Körpers auf eine Bedrohung. Vereinfacht gesagt, wird das Hormon Adrenalin gebildet, um kurzfristig für eine erhöhte Leistungsbereitschaft zu sorgen. Dies ist gesundheitlich unbedenklich. Fährt der Körper jedoch über einen längeren Zeitraum auf „Hochtouren“, kann nicht nur dieser, sondern auch die Seele Schaden nehmen. Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist wohl Burnout. Statistisch gesehen erkranken Frauen etwas häufiger als Männer.
Totale Erschöpfung
Da Burnout keine klar definierte Krankheit ist, ist es schwierig, das Krankheitsbild genau zu beschreiben. Übersetzt bedeutet das Wort, ausgebrannt zu sein. Häufig wird Burnout als eine totale emotionale und körperliche Erschöpfung oder als Erschöpfungsdepression bezeichnet. Reinhard Sellmann, den ehemaligen Leiter der psychologischen Beratungsstelle der evangelischen Kirche in Württemberg, haben wir in einem Interview im Jahr 2014 nach seiner eigenen Definition gefragt: „Für mich ist Burnout ein Prozess, bei dem negativ erlebter Stress eine große Rolle spielt und bei der die Arbeit zu psychischen und körperlichen Erkrankungen führen kann.“
Seiner Ansicht nach wurde es ein Dauerthema in den Medien, weil die Presse etwas aufgegriffen hatte, was die Menschen bewegt und wo sie sich wiederfinden. Dies bekam er selbst zu spüren, weil er ein gefragter Referent beim Thema Burnout war – unter anderem auch in der Landwirtschaft. Sein Anliegen: Dass der Umgang noch offener wird, damit sich etwas verändern kann.
Wer viel arbeitet, darf auch krank werden. Diese Reihenfolge wird von der Gesellschaft akzeptiert.
Reinhard Sellmann
„In einer Industrienation wie Deutschland ist derjenige angesehen, der viel leistet. Und wer viel gearbeitet hat, darf auch krank werden. Diese Reihenfolge wird von unserer Gesellschaft akzeptiert“, betonte der Psychologe und verwies darauf, dass gerade Männer so einen Weg gefunden haben, über ihr Leiden zu reden.
Burnout in der Landwirtschaft?
Burnout ist auch ein Thema in der Landwirtschaft. Dies merken die landwirtschaftlichen Familienberatungen im Alltag zunehmend. Als Selbständige sind Landwirte einem dauerhaften Existenzdruck ausgesetzt. Dies führt dazu, dass die Betriebe bemüht sind, stetig zu wachsen. Teure Investitionen, wachsende Bürokratie, vermehrte Kontrollen und steigende Ansprüche im Hinblick auf die Produktion machen die Arbeit nicht nur komplizierter und anspruchsvoller, sondern verstärken den Druck auf die Betriebsleiter.
Treten dann noch Schwierigkeiten im Privatleben auf, geht dies an die Substanz. „Man kann viel aushalten, wenn die beruflichen und die privaten Ressourcen ausreichen. Stimmt jedoch das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben nicht mehr, wird es auf Dauer schwierig“, sagt Angelika Sigel, die für das Evangelische Bauernwerk in Waldenburg-Hohebuch (Baden-Württemberg) arbeitet.
Stimmt das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben nicht mehr, wird es schwierig.
Angelika Sigel
Ähnliche Entwicklungen kann auch Sascha Müller bestätigen. Der Pfarrer ist bei der Landwirtschaftlichen Familienberatung der Kirchen angestellt, die bei Problemen häufig der erste Ansprechpartner für Menschen aus Bauern- und Winzerbetrieben in der Pfalz und in Rheinhessen sind. „Tendenziell haben die gesundheitlichen Probleme bei den jüngeren Landwirten, also den 35- bis 45-Jährigen, zugenommen. Sie fühlen sich neben der Arbeit von den Ansprüchen, die Ehefrau, die Kinder und die teilweise pflegebedürftigen Eltern an sie stellen, häufig überfordert“, lautet die Feststellung des Pfarrers. Lieber werden die körperlichen Beschwerden als Alterserscheinung wahrgenommen, anstatt zu überlegen, ob dahinter möglicherweise eine Lebensüberlastung steckt und die Seele sich auf diese Weise Gehör verschaffen will.
Wer ist besonders gefährdet?
Obwohl theoretisch jeder an Burnout erkranken kann, sind nach den Worten der Agraringenieurin Sigel besonders diejenigen gefährdet, die nicht nein sagen können und ihre Wertschätzung vor allem aus Leistung ziehen sowie Perfektionisten, die sich keinen Fehler eingestehen. Antreiber für den hohen Leistungswillen können ebenfalls Familienleitbilder sein, die ungefragt in der Jugend übernommen wurden, zum Beispiel „sei immer tüchtig und niemals schwach“. Gemein ist allen Burnout-Kandidaten, dass sie am Anfang ein starkes Engagement für den Job zeigen – sie „brennen“ im wahrsten Sinne des Wortes – und gehen mit einem extremen Idealismus und hohen Ansprüchen an sich selbst und die Umgebung ans Werk.
Da Burnout ein schleichender Prozess ist, werden die Symptome oft erst spät erkannt, wie die Beraterin an einem Beispiel aus der Praxis verdeutlicht: So rief eine Landfrau bei der Familienberatung an, weil sie sich Sorgen um ihren Mann machte. Er könne nicht mehr schlafen und sei ständig schlecht gelaunt. Seitdem sie eine Baustelle auf dem Hof haben, sei ihr Mann durcheinander und stelle sein ganzes Leben in Frage – dabei sei der Perfektionist immer einer gewesen, der Vorne weg marschierte. Stets war der Hof ein Vorzeigebetrieb gewesen. Während der Landwirt sich im Laufe der Zeit immer stärker zurückzog, sprang seine Frau in die Bresche, um Teile seiner Arbeit zu übernehmen. Das Ehepaar sprach immer weniger miteinander, so dass die Bäuerin erst spät realisierte, wie schlecht es ihrem Mann wirklich ging. Letztendlich brachte sie ihn eines Tages ins Krankenhaus, weil er suizidgefährdet war.
In den Händen von Spezialisten hat sich der Landwirt nach einer psychiatrischen Behandlung so gut erholt, dass er später wieder im Betrieb einsteigen konnte. Für ihn war die Auszeit wichtig gewesen, wie er später sagte. Es gab ihm die Gelegenheit, sein Leben und seine Arbeit einmal von einer anderen Perspektive zu sehen.
Symptome rechtzeitig erkennen
„Körper und Psyche geben rechtzeitig Hinweise. Nur müssen sie wahrgenommen werden“, so der Psychologe Sellmann. Wichtig ist es, den anfänglichen Teufelskreis so schnell wie möglich zu durchbrechen, damit die Abwärtsspirale nicht immer weiter nach unten geht.
Seiner Erfahrung und der Fachliteratur nach lässt sich der Burnout-Prozess in die folgenden vier Phasen einteilen, deren Symptome aber nicht alle bei jedem auftreten müssen.
- Phase 1:
Zu wenig Schlaf, Ruhe, entspannende Bewegung und soziale Kontakte, unterdrückte Gefühle von Lustlosigkeit, Resignation, Angst und Trauer. - Phase 2:
Schlafstörungen, niedriger Blutdruck, Schwindelgefühle, Verspannungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsmangel – die Fehlerhäufigkeit steigt, das Engagement wird deutlich weniger, erhöhte Infektanfälligkeit, Kreislauferkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden und gereizte Stimmung. - Phase 3:
Suchtverhalten, chronische völlige Erschöpfung, sich abschotten, Desinteresse, Energiemangel, Schuldgefühle. - Phase 4:
Angststörungen, Aggressivität, Magengeschwüre, Herzinfarkt, Schmerzsyndrome, mittlere bis schwere Depressionen, Selbstmord.
Wie bei jeder Krankheit sind die Heilungschancen am besten, je eher sie erkannt wird. Daher sollte jeder, der bei sich oder bei Personen im persönlichen Umfeld Burnout-Symptome feststellt, möglichst schnell den Kontakt zu einer Beratungsstelle suchen. Gerade auf dem Land bieten sich die landwirtschaftlichen Beratungsstellen an, da sie schnelle Hilfe garantieren und meistens kostenlos sind. Und dennoch werden nicht alle Betroffenen wieder vollständig gesund. Einer skandinavischen Studie zufolge enden etwa 50 % aller Burnout-Fälle in einer Depression.
Achtsam sein
Niemand möchte an Burnout erkranken. Schließlich ist es ein Ausfall, bei dem die Psyche streikt. Dies darf man nicht verharmlosen. Allerdings ist es möglich, vorbeugende Maßnahmen zu treffen, um das Risiko möglichst klein zu halten. Dazu gehöre vor allem, sein Privatleben zu stärken, so Angelika Sigel. Geht es darum, Entscheidungen zu treffen, sollten diese möglichst realistisch sein – und immer ein „Plan B“ einkalkuliert werden. Von Bedeutung ist ebenfalls der richtige Umgang in Konfliktsituationen und beim Treffen von Kompromissen.
Tendenziell haben die gesundheitlichen Probleme bei den jüngeren Landwirten zugenommen.
Sascha Müller
Sascha Müller empfiehlt, daran zu denken, dass nach einer Zeit der Anspannung immer eine Zeit der Entspannung folgen sollte. Wer beispielsweise einen Stall bauen will, sollte für die Zeit danach oder für zwischendurch auch eine Pause einplanen und nehmen. Um sich im Alltag nicht vollständig in der Arbeit zu verlieren, empfiehlt es sich, kleine „Ruhe-Inseln“ einzulegen. Gelegentlich hilft es ebenfalls, sich mit guten Sätzen wie zum Beispiel „In der Ruhe liegt die Kraft“ oder „Ich lebe und arbeite in meinem Tempo“ wieder daran zu erinnern, die richtige Balance zwischen Beruf und Privatleben für sich zu finden. Denn nur so ist es möglich, auf Dauer ein zufriedenes Leben zu führen.
Wo gibt es Hilfe?
Wir haben einige Adressen für Sie zusammengestellt. Daneben ist auch immer der Hausarzt ein wichtiger Ansprechpartner.
BAG Familie und Betrieb
Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Familie und Betrieb ist ein Zusammenschluss von landwirtschaftlichen Beratungsstellen und Sorgentelefonen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In Deutschland ist die BAG in acht Bundesländern vertreten. Ihre Region finden Sie unter:
BAG Familie und Betrieb e.V.
Hohebuch – Evangelisches Bauernwerk in Württemberg
Angelika Sigel und Volker Willnow sind die beiden Ansprechpartner in der Landwirtschaftlichen Familienberatung.
74638 Waldenburg-Hohebuch
Telefon: 07942-10770
www.hohebuch.de
Sorgentelefone und Familienberatung in Niedersachsen
Kurze Geismarstraße 33
37073 Göttingen
Telefon: 0551 49 709 – 0
www.sorgentelefon-landwirtschaft.de/
Landwirtschaftliche Familienberatung der Kirchen für Familien aus Bauern- und Winzerbetrieben in der Pfalz und Rheinhessen
Unionstraße 1
67657 Kaiserslautern
Telefon: 0631-3642-203
www.lfbk.de
Hilfeportal der Diakonie Deutschland
Hier finden Sie Hilfsangebote vor Ort:
hilfe.diakonie.de
Katholische Bundeskonferenz für Ehe, Familien- und Lebensberatung (KBKEFL)
Kaiserstraße 161
53113 Bonn
Telefon: 0228-103234
www.katholische-eheberatung.de
Psychotherapie-Informationsdienst (PID)
Hier finden Sie Adressen von
Psychotherapeuten in Ihrer Region.
Telefon: 030-20916 6330
www.psychotherapiesuche.de